Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

280 Zehnte Dronung: Stoßvögel; erſte Familie: Falkenvögel.

RNaubt man ihm die Eier, ſo verläßt er den Horſt zwar in der Regel, aber doh niht in allen Fällen. Bei einem Horſte wurde, wie E. von Homeyer mir mitteilte, das Weibchen geſchoſſen und eine Hütte gebaut, um womöglich au<h das Männchen zu erlegen. Dieſes erſchien, ſeßte ſih auf den Horſt, betrachtete längere Zeit die Eier und führte plötzlich zwei Hiebe nah ihnen. Homeyer erlegte den Vogel, ließ die Eier herabholen und fand, daß ſie dur den Schnabel zertrümmert waren. Unſer Gewährsmann hatte, ſeitdem das Weihbchen geſchoſſen worden war, den Horſt nicht verlaſſen; ein anderes Tier war nicht dageweſen; die verdächtigen Bewegungen waren geſehen worden: es unterlag alſo keinem Zweifel, daß der Adlex, vielleicht im erſten Kummer über den Verluſt der Gattin, die Brut ſelbſt zerſtört haben mußte. Solche Fälle, wie der geſchilderte, müſſen jedo<h als Ausnahme betrachtet werden; in der Regel verſucht der männliche Schreiadler ſeine Brut großzuziehen, wenn dieſer die Mutter geraubt wurde. Das Weibchen eines anderen Paares, das E. von Homeyer beobachtete, war vom Horſte weggeſchoſſen worden. Nach einigen Tagen kam unſer Gewährsmann zum Horſte und bemerkte, daß von ihm ein Adler abflog. Es wurde auf ihn geſchoſſen und ihm ein Bein dur<h den Schuß fo ſ{<wer verleßt, daß es bewegungslos herabhing. Troßdem zeigte ſih der verwundete Vogel noh mehrere Male in der Nähe des Horſtes, hütete ſih jedo<h wohl, wieder zum Schuſſe zu kommen. Am anderen Morgen brachte Homeyer den Uhu in die Nähe, der Adler ſtieß auf dieſen hernieder und wurde erlegt. Es war der verwundete Vogel vom vorhergehenden Tage, ein Männchen. Der Fuß zeigte ſi<h bereits in voller Heilung begriffen und würde binnen wenigen Tagen wieder brauchbar geweſen ſein. Jm Horſte fanden ſih bebrütete Eier. Den ausgekommenen Jungen ſ{<leppen beide Eltern ſo viel Futter zu, wie ſie vermögen, aber auch jezt no< bilden Lurche und Kriechtiere die Hauptnahrung der Eltern und Kinder. Nah Mechlenburgs Angabe ſieht man die Alten oft große Schlangen dem Horſte zutragen.

Jung aufgezogene Schreiadler werden ebenſo zahm wie irgend ein anderer Raubvogel; ſelbſt alt erbeutete gewöhnen ſi< bald an die Gefangenſchaft. E. von Homeyer pflegte einen von ihnen 5 Jahre und hatte ihn ſo gezähmt, daß er ihn aus den Gebauer befreien und nach Belieben umherfliegen laſſen konnte. Wenn ihm Futter gereiht werden ſollte, wurde ſein Käfig geöffnet, und Homeyer zeigte ſih auf dem Hofe, trat an ein für den Adler bereitetes Sißgeſtell und ließ den Vogel zu ſi heranfliegen, damit er ſein Futter aus des Pflegers eigner Hand empfange. Einmal hatte der Adler ſih bis auf das Scheunendach erhoben und mußte mit Hilfe einer Leiter herabgeholt werden, verſuchte aber auch jezt no< niht zu entfliehen. Er unterſchied ſeinen Pfleger genau von anderen Leuten, zeigte ſich dieſen gegenüber mißtrauiſh und wich denen, die er no< nicht geſehen hatte, förmlih aus. Nach fünfjähriger Gefangenſchaft hatten ſih die Fle>en des Jugendkleides noh kaum verändert, Beweis genug, daß auch der Schreiadler mehrere Fahre braucht, bevor er erwachſen und fortpflanzungsfähig iſt.

Abgeſehen von ſtärkeren Raubvögeln, die den Horſt in Beſchlag nehmen, Schmaroßzern, die Haut und Eingeweide bewohnen, und Raben und Krähen, die ihn ſ{<reiend verfolgen, hat unſer Adler keine Feinde unter den Tieren, leider aber noh viele unter den Schießjägern und Eierſammlern, unter leßteren die ſ{hlimmſten, weil unbarmherzigſten. Der Nugzen einer wiſſenſchaftlih angelegten reihhaltigen Eierſammlung wird von mix niemals in Abrede geſtellt werden, der Schade aber, den ein rü>ſihtsloſer Eierſammler unter der Vogelwelt einer von ihm heimgeſuhten Gegend anrichtet, iſt no< bei weitem größer als der Gewinn, den ſein Sammeleifer für die Vogelkunde haben kann. Der Schreiadler nun iſt, weil ſein Horſt leiht aufgefunden werden kann, ſolhen Raubgeſellen aufs ärgſte ausgeſeßt und durch ſie buhſtäblih {hon aus vielen Waldungen vertrieben worden, zum Kummer aller, welchen der große, harmloſe und faſt unſchädlihe Raubvogel Freude und Genuß bereitete