Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 4.

Novelle von L. Haidheim. 10595

Und dann ging ein Tag nach dem anderen hin, ruhig, friedvoll, voll Zerſtreuung für ſie, denn in dem Salon des Photographen ging es ſtets lebhaft zu.

Jhr Herr war zufrieden, die Kunden hatten ſie gern, ſelbſt die feſten Offiziere begegneten ihr ahtungsvoll. Sie begann na<h und nah das ſchre>li<hſte Erlebniß ihres jungen Daſeins zu vergeſſen.

Duxch die Straße, in welcher der Reinert’ſche Laden wax, fam ſie nie; au< hörte ſie ſelten von dort; die Schande, welche Herr Reinert ihr zugedacht, mochte ihn doch wohl gereut haben, denn fein Menſch hatte davon in feinem Laden crfahren. Das hatte ſie Alles bei gelegent= ſichen Begegnungen mit einem der Commis oder der Ge=hilfinnen bemerkt.

Aber auch dieſe Begegnungen waren äußerſt ſelten, weil Elſe jeden Lag von früh bis ſpät bei dem Photographen war und die geſelligen Zuſammenkünfte der jungen Mäd= chen und Herren aus den Geſchäften nie beſucht hatte. Sie lebte eingezogener als je, denn die Mutter kränkelte; ein Spaziergang war ſchon ein ſeltenes Vergnügen.

Bruder Otto hatte inzwiſchen ſein Examen beſtanden, mit Glanz ſogar; eine gekrönte Preisſchrift trug ihm ein Reiſeſtipendium ein; die kleine Familie war wieder glüdlich.

Wenigſtens Mutter und Bruder waren es. Auf Elſe ſag, ſeit Otto wieder im Hauſe wax, immer wie ein Alp der Gedanke: „Wenn er es wüßte!“ Und immer wax der nächſte: „Lieber ſterben!“ Denn wenn es an den Tag fam, daß ſeine Schweſter im Gefängniß geſeſſen hatte, ſo