Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

geflügelten Genius in einer Wage stehend (Melancdolia-Attribute bei Dürer!) zeigt, und bei dem „Mann mit der goldenen Klaue” inWien: beides Bilder von Lorenzo Lotto, der in seinen jungen Jahren dem Giorgione geistig sehr nahe gewesen sein muß.?®) Wir vermuten, daß auch die rätselhafte Klaue in der rechten Hand des Dargestellten Symbol einer Sozietät ist; vielleicht darf man daran denken, daß auch das Fabeltier, welches den Saturnier auf Campagnolas Stich heimsucht, solch eine Klaue besitzt. Das Bildnis der Sammlung Kemp zeigt übrigens ebenfalls eine Handseste, die so wie sie hier gegeben ist, nicht konventionell sondern bedeutsam anmutet. Die Hand umschließt einen Beutel (?) und ist wie besiegelnd auf ein Buch gepreßt. —

Es ist ein recht wertvolles Ergebnis für uns, daß wir auf dem Budapester Bildnis das V in Verbindung mit einem Sinnbild für eine geheime Gesellschaft vor uns haben. Nach alledem, was wir bereits von Giorgiones Umgang wahrscheinlich gemacht haben, wird es noch wahrscheinlicher, daß nur Giorgione selber als ein Gesinnungsgenosse des Dargestellten dies Bildnis gemalthaben kann und damit kommen wir den Forschern zu Hilfe, die auh aus stilkritischen Gründen und aus einem feinen Gefühl für die tief giorgioneske Psychologie dieses Kopfes an diesem Meister festgehalten haben. Der Dargestellte gehörte zu Giorgiones Bekannten. Sonst hätte er ihn nicht gemalt. Er muß auch zu seinen Vertrauten und „Brüdern” gezählt haben, denn anders hätte Giorgione die Lehrzeichen nicht gekannt und auch nicht anbringen dürfen. Ist es zu kühn, wenn wir schließen, daß dort, wo das V vorkommt, ein Hinweis auf dieselbe sekrete Sodalität des Giorgione gegeben sein soll? Jedenfalls bei dem sogenannten „Ariost”, der auch stilkritisch so dicht an Giorgione heranrückt, geben wir dem V diesen Sinn. Bei den anderen könnte die verlockende Beziehung zu Tizian zu entsprechenden Umfälschungen Anlaß gegeben haben, doch scheint der Fälschungscharakter nicht durchaus nachweisbar.

Was das V freilich bedeutet, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Gewiß ist nur nach Kellers Forschungen, daß eben dieses Zeichen eine auffallende Verbreitung nicht nur in frühchristlicher Zeit, sondern vor allem unter den

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