Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

diskreter, doch nicht anders als der Wilde, der eine Schenkelkeule seines Feindes verzehrt. .

Veränderte und veränderliche Formen sind wieder die Folge der feinen und häufigen Durcharbeitung von Kleinformen durch jene mannigfaltigen Bewegungen. Gewöhnlich fällt die Unterlippe breit und glänzend ab und ist schön flächig nach außen gewölbt (Schroarzer Arbeitsloser XVI, 2; Chevalier XIV, 4). Oft sind auch süße, saure und bittere Einstellungen angedeutet, daher ist eine starke Beweglichkeit oder wenigstens Leichtigkeit in allen Teilen der Lippen vorhanden. In primitiven Fällen deutet das Geschmacksgemisch, besonders bei roher Lippenform, tatsächlich auf ERlust, Genußsucht und Sinnlichkeit (Al Capone XVI, 8; rassenmäßig bei Negern, Schwarzer Arbeitsloser XVI, 2; Hille Bobbe XI, 6), in einiger Verfeinerung jedoch auf Feinschmeckerei (Chevalier XIV, 4; Toni van Eyck X, 7). Auch der „Arbeiterkopf” (XII, 7) weiß trotz Müh’ und Plage dem Leben seine guten Seiten abzugewinnen und Baldwins Mund kündet keine Kasteiung (XIV, 5). Bei höchst edel geformten Lippen (vgl. bei der Schmachtstellung) wird allerdings auch hier die Bedeutung eine wertsymbolische: das Geschmacksgemisch etwa bei Bach (VI, 4) und Lessing (VIII, 2) deutet auf „Geschmack” im ästhetisch geistigen Sinne. Hält man die reflektierenden Augen Lessings (vgl. Augen, Linseneinstellung) mit seinem geschmackvollen Munde zusammen, so hat man schon einen Grundzug seiner Wesensart: Reflexion über den Geschmack.

Hier ein Wort über den Mund Goethes! Von besonderem Reiz im Gegensatz zu seiner fast stetigen Augeneinstellung (vgl. Augachsenkonvergenz) ist der eigentlich sein ganzes Leben hindurch sich fortsetzende Wechsel der Mundeinstellung. Vor allem ist dies bei den Geschmackseinstellungen auffällig. In der Jugend (Porträt von Kraus II, 1) verrät ein süßer Zug die Liebesnatur des Dichters. Sehr schnell stei-

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