Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

preßt. Dennoch bemühen sie sich um ein süßlich-säuerliches Lächeln, dessen dünne Oberschicht ohne genießerischen Untergrund die Unechtheit genugsam bezeugt. Zu diesem angestrebten Lächelkontakt kommt noch die in der Lippenmitte. künstlich zusammengedrängte Spannung durch das Spitzen des Mundes, das auf dem Umweg über den süßen Zug die Spuckstellung in eine Schmachtstellung umbiegen möchte, was sich angesichts der Fletschspannung in den Mundwinkeln recht sonderbar ausnimmt. Der Gesichtsausdruck des menschenliebenden Puritaners ist also hier der harten Physiognomie des zielbewußten Herrenmenschen aufgesetzt. Oft ist die Maske an solchen Widersprüchen zu erkennen und zu entlarven. Zwar spielen gute Schauspieler ihre Rollen so natürlich, daß wohl auch das geschärfte Auge des Physiognomikers keinen Unterschied zwischen ihr und einer echten Ausdruckshaltung zu entdecken vermöchte. Allein das sind zugleich die Fälle, in denen wirklich eine vollkommene Einfühlung des Schauspielers in seine Rolle stattfindet. So verwendeten wir auch ungescheut im ganzen Verlauf unsrer Untersuchung Rollenbilder von Bühnenkünstlern und -künstlerinnen zur Illustration der Ausdruckseinstellungen. Schmedes als Siegfried gilt uns als Siegfried selbst (IX, 1). In manchen Fällen ist die Distanz zwischen Mensch und Schauspieler nicht groß, wenn der Rollenkreis sich im Spielraum des natürlichen Charakters hält. Oft aber ist die Spannweite der Ausdruckshaltungen eine unglaubliche und dann ist das Schauspielergesicht wenigstens in der Ruhestellung an der vorhin erwähnten Felderung oder wenigstens vieldeutigen Leichtbeweglichkeit des mimischen Geländes als solches zu erkennen.

Auch sonst bleibt es wahr, daß die Maske veränderte Formen schafft und daß jeder einzelne Fall wenigstens prinzipiell, wenn schon nicht nach dem derzeitigen Stande der

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