Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

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Das Bulgaren-Volk und ſeine Eigenart.

Was der Fanariot am geiſtigen Wohle der Bulgaren verdarb, verübte der Türke redlich am materiellen Wohl derſelben. Wie noh immer, ſo blieb auch diesmal die „Wohlfahrt der Rajahs“, trol der beiden yHattis“ und ihrer prunkenden Redensarten eine rein papierene Verheißung. Endlich entpuppte die dur< das famoſe Circular Gort\<ako ffs vom Jahre 1860 verurſachte türkiſche Enquête über den „verbeſſerten“ Zuſtand der <riſtli<hen Bevölkerung in der Türkei die diesbezüglihen ſ{önfärberiſ<hen, parlamentariſchen Auslaſſungen Palmerſton's und Layard's als wundervolle poetiſ<he Unwahrheiten.

Es überzeugte ſih der großherrlihe Commiſſär Köprüslü Paſcha durch eine Rundreiſe perſönlich, daß die Klagen der Rajah nur allzu gerechtfertigt waren; es bildeten die ihrerzeit von SaintMarc-Girardin ſo ſenſationell ansgebeuteten Berichte der engliſhen Conſuln, welhe damals bei Sir Henry Bulwer einliefen, eine gar zu ergreifende Erläuterung zur diplomatiſchen Beſ<hwerdeſchrift des ruſſiſchen Reichskanzlers.

Aus denſelben ging unwiderlegli<h hervor, daß beiſpiel8weiſe in manchen Gegenden die türkiſche Regierung ſelbſt eine Prämie für Raub und Abtrünnigkeit <riſtliher Mädchen gewährte! Darüber liegen Zeugniſſe von den engliſchen Conſuln Blunt (Priſtina), Abbott (Dardanellen) und Longworth (Belgrad) vor; das lettere dürfte hei der bekannten Türkenfreundlichkeit des Zeugen beſonders {wer in die Wagſchale fallen.

Einen niht minder lehrreichen Beitrag zur Erläuterung türkiſher Geſetzmäßigkeit betreffs der in der „Charte“ verbrieften Rechte der Rajah bilden die von den engliſhen Conſuln erhobenen Daten über den Werth <riſtliher Zeugniſſe vor türkiſchen Gerichten; in den meiſten Fällen wurden dieſe Zeugniſſe einfa<h niht zugelaſſen und ſomit, genau ſo wie in früherer Zeit, mit voller alttürfiſher Willkürlichkeit in der Beſteuerung von Grund und Boden, ſowie einzelner Producte, welche beſonders ſ<hwer auf dem bulgariſchen Landwirthe, Weinbauer und Roſenölmüller laſtete und no< laſtet. Wir gewinnen dadur<h ein ganz richtiges Bild von dem „verbeſſerten“ Rajah-Loſe in Bulgarien. Jn den Sechziger-Jahren wurde türkiſcherſeits mit vieler Selbſtbefriedigung die neue VilajetReform angeprieſen, die einen gänzlihen Umſchwung in der Verwaltung und Regierung der Provinzen herbeiführen ſollte, aber es blieb bei einem einzigen „Muſter-Vilajet" — dem von Donau-Bulgarien. Was da der energiſhe Midhat Paſcha gethan, war wirkli< ein ernſter Anlauf zu einer neuen Zeit ; es ſte>te in der unanſehnlihen Erſcheinung

dieſes genialen türfiſhen Staatsmannes, - was eiſerne Willens- und Arbeitskraft, Strenge, Scharfbli>, Energie und insbeſondere Organiſationstalent anbelangt, ſo eine Art von Peter dem Großen. Leider ſollte das in vieler Beziehung aufrichtige und dur<hgreifende Regenerationswerk Midhat's in Bulgarien Stü>kwerk bleiben, theilweiſe durch die Schuld des in Folge ſeiner gewaltſamen Begabung oft über das Ziel “ hinausſchießenden Wiederherſtellers ſelbſt, zumeiſt aber aus ſpezifiſch türkiſhen Regierung8gründen, welche in der Unbequemlichkeit eines ſo gearteten Mannes wurzeln mußten. Uebrigens bietet Midhat ein hervorragendes Beiſpiel des gewaltigen Zwieſpaltes aller türkfiſhen Regierungsform mit fih ſelbſt er konnte es Keinem re<t macheu; die Rajahs nannten ihn den „Bulgarenſchinder“, die Osmanuli dei „Paſcha der Ungläubigen“. Nun, aus dieſer Klemme wird die Türkei nie herauskommen.

Das bulgariſhe Volk und deſſen Eigenart bietet, bei manhem Schlagſchatten, viel Anziehendes. Die Bulgaren ſind etwa fünf Millionen an der Zahl. Am reinſten im Blute iſt ihr Stamm im weſtli<hen Balkan geblieben. Der Bulgare iſt meiſt blond und gedrungener von Geſtalt al2 der Romane und Grieche; es dürften in den ſtärker vorſpringenden Bakenknochen und enggeſchlibten Augen Ueberbleibſel aus der Blutmiſchung mit finno-uraliſchen Eroberern zu erbli>en ſein. Das weiblihe Geſchleht iſ von mittlerem Wuchſe und in einigen Bezirken zwiſchen dem Vid und Oguſt {ön und von üppigen Formen, die jedo<h na<h der Verheiratung bald unter dem Drucke harter förperlicher Arbeit verſhwinden.

Die bulgariſ<he Sprache gehört nicht, wie ſo häufig irrthümli<h angenommen worden, zur finniſh-tartariſhen Sprachfamilie, ſie nähert ſih vielmehr ſtark dem Ruſſiſchen und wird zu Kalofer am Balkan am reinſten ge ſprochen. Ju der Tracht herrſcht insbeſondere dei der weiblichen Landbevölkeruug große Mannigfaltigkeit. Ein Haupt\{<mud> iſt der Pojas (Gürtel), welher oft mit maſſiv-ſilbernen oder in Filigranarbeit mit koſtbaren Steinen ausgeführten Spangen geziert erſcheint. Der geſ<hma>vollen Weiſe, wie die bulgariſchen Frauen ihren Shmu> zuſammenzuſtellen wiſſen, iſt zu entnehmen, daß ihnen viel Farben- und Formenſinn angeboren.

Jn ſtädtiſh-bulgariſhen Kreiſen herrſcht “im Ganzen ein wohlthuender ernſter Ton vor, welcher zu der bekannten rumäniſchen Leichtfertigkeit einen auffallenden Gegenſaß bietet. Zu Tanz und Geſang zeigt der Bulgare große Vorliebe ; nur fehlt ihm außer den in der lebten Zeit in Aufſhwung