Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

Ueberdies hatte die Ruhe ſhon ſo ungewöhnlih lange gedauert und die Montenegriner hatten ſiher Luſt nah einem neuen Kriegszuge, aber das deutete auf Vorbereitungen zu einem neuen Streiche. Derſelbe konnte nux den „Türkenhunden“ zugedacht ſein, und es war nicht zu erwarten, daß die Affaire von Podgoriza ohne weiteres Blutvergießen beigelegt werde; das erlaubte weder der alte Haß, noh die immer „zu Ret“ beſtehende Blutrache.

Angeſichts ſolcher Geſinnungen mußte es mit Verwunderung und Lob anerkannt werden, daß Fürſt Nikolaus ſo viel Macht über die Montenegriner beſaß, um fie von der Selbſthilfe zurü>zuhalten. Jn früheren Zeiten wäre nah einem ſolhen Vorfalle der ganze Stamm, etwa 20.000 Mann, von den Bergen herabgeſtiegen, um ſi blutige Genugthuung bei den Türken zu holen; dem Geſeße der „Blutrache“ gemäß, hätten ſie das türfiſhe Gebiet mordend und plündernd überfallen und der Krieg hätte ſo lange fortgewüthet, bis endlich dur<h fremde Futervention ein Waſffenſtillſtand hergeſtellt worden wäre. Fett ſchien die Civiliſation bis na< Montenegro vorgedrungen; das Volk wartete auf die Winke des Fürſten, es erklärte niht aus eigener Machtvollkominenheit einen regelloſen Krieg; das mächtige Geſeß der Blutrache war durc die Civiliſation, wenn au< niht aufgehoben, do< wenigſtens gemildert worden.

Und gerade dieſes überraſchende Zuwarten der Montenegriner war eine Anklage für die Türkei. Jn dem kleinen, halbbarbariſchen Montenegro, in dem Fürſtenthum von achtzig Quadratmeilen herrſhte eine Disciplin, deren die Türkei, trot allex den Großmächten ertheilten Verſpre<ungen, entbehrte; es war die Türkei unfähig, den wilden Fanatismus ihrer Unterthanen zu zügeln und die Gefahr lag nahe, daß das Gemetzel von Podgoriza zum Signal eines allgemeinen Krieges gegen ſie wurde.

Was die Angelegenheit verſhlimmerte, war, daß der Mörder des in Podgoriza getödteten Türken ſelbſt ein Türke geweſen ſein ſollte, der Ueberfall der Montenegriner alſo dur nichts erklärt werden fonnte als durch den zwiſchen ihnen und den - Türken ſeit Jahren beſtehenden Racenhaß, dem die Lebteren wieder einmal eine kleine Befriedigung verſchaffen wollten. Türkiſcherſeits wurde jedo< entſchieden beſtritten, daß der Mörder des türkiſchen Unterthanen ein Türke geweſen. Es war ein Montenegriner und die Rache der erbitterten Türken traf bei ſeiner Verfolgung noch fünf ſeiner Gefährten. Dieſe \e<s Opfer fielen; aber von einer allgemeinen Maſſacre könne niht geſprochen werden. Auch habe die türkiſche Regierung eine ſtrenge Unterſuchung des Falles angeordnet und bereits eingeleitet.

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Jndeſſen trugen die blutigen Vorfälle von Podgoriza einen weit ernſteren Charakter als alle vereinzelten Händel, welche in jenen Gegenden zwiſchen ſ\treitſüchtigen, waffentragenden und ſih von jeher gründlich haſſenden Grenznachbarn zur Gewohnheit geworden waren. Die Berichte aus Cettinje ſtellten die Sache iu einem den Söhnen der Schwarzen Berge günſtigen Lichte dar; dem gegenüber ſtand ein türfiſ< gefärbter Bericht aus Conſtantinopel, welcher der Montenegriner gar niht erwähnte, ſondern die Sache ſo hinſtellte, als habe die von der ottomaniſchen Regierung angeordnete Entwaffnung der Bevölferung den <riſtli<hen Theil derſelben iu Zuſammenſtoß mit der türkiſchen gebracht. Aber der Hergang an und für ſi, daß es zwiſchen Türken und Chriſten, ob dieſe nun diesſeits oder jenſeits der montenegriniſhen Grenze wohnen, zum blutigen Handgemenge gekommen war, und daß Lettere, als die Angegriffenen, den Kürzeren gezogen haben, ſtand feſt, und dieſe Eine Thatſache genügte wohl ſhon, daß man ihr von allen Seiten volle Aufmerkſamkeit zuwendete.

Es handelte fi<h zunächſt niht ſowohl darum, wer Recht und wer Unrecht gehabt, als um die für die Ruhe im Orient und möglicherweiſe für den Frieden in Europa ſehr wichtige Aufgabe, einen Streit zwiſchen einzelnen Völkerſchaften der Türkei oder zwiſchen der Pforte und einem ihrer Vaſallen oder unmittel baren Nachbarn niht um ſih greifen zu laſſen. Es wäre nicht das erſte, und leider wohl au< niht das leßte Mal geweſen, daß die Kämpfe auf dieſem Boden die europäiſhen Mächte zur Mitbetheiligung oder zur Mitleidenſchaft nöthigten, und wenn dort der feinſte Funke, der in den hoh aufgehäuften Zündſtoff fällt, niht ſofort mit eiſernem Fuße erſti>t wurde, ſo war man nicht ſicher, ſhon von heute auf morgen der Gefahr eines Weltbrandes ausgeſeßt zu ſein.

Die Löſung der orientaliſhen Frage, das Begräbniß des „todten Mannes“, wenn er einmal wirkli< todt oder todtgemacht iſt, die BVertheilung ſeiner Hinterlaſſenſchaſt, das waren Aufgaben, welche die europäiſhen Mächte mit der beſhénigenden * Motivirung der Nichtdringlichkeit von der Tagesordnung geſtrihen hatten. Die Opfer, die nun jede von ihnen hätte bringen müſſen, wären zu groß, die Eventualitäten, welch? entfeſſelt würden, zu bedenkli<h geweſen, als daß inan die Zerſchneidung des orientaliſchen Knotens niht im allgemeinen Jutereſſe hätte von ſi<h weiſen ſollen. Es gab nur no< Eine Politik, welche gegenüber der europäiſchen Türkei Europa zuſagen fonnte: die Politik des Zuwartens und gleichzeitig der ſtrengſten Ueberwachung und Unterdrü>ung eines jeden bedrohlihen Anzeichens der Gährung oder der Aufwallung. Die türkiſchen

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