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führen kann. Brechts Handlung geht dann genau wie Shakespeares weiter: Claudio (in Measure for Measure) wird verhaftet, weil er seine Verlobte Juliet geschwängert hat. Bei Brecht wird der Pachtherr Emanuele de Guzman verhaftet, weil er (ein Spitzkopf) ein rundköpfiges Mädchen, Nanna Callas, verführt haben soll. Beide werden zum Tode verurteilt; beide haben die Chanche zu entkommen, wenn die Schwester ihre Keuschheit aufopfert. Claudio würde freigesetzt, wenn seine Schwester Isabella, die als Novize gerade ins Kloster eingetreten ist, sich dem Verlangen von Angelo hingibt. Brechts Isabella ist auch ins Kloster gegangen und sie kann gleichfalls ihren Bruder retten, wenn sie sich dem Kommandanten des Gefangenenlagers, Zazarante, hingibt. Brecht hat allerdings die Figurenkonstellation etwas geändert. Er machte aus den beiden Gestalten von Juliet und Marianne bloß eine Gestalt, Nanna Callas. Wo bei Shakespeare Mariana statt Isabella zu Angelo geht, geht bei Brecht Nanna statt Isabella. (Und genau wie bei Shakespeare Claudio von einem an-

deren am Galgen ersetzt wird, so nimmt bei Brecht Pächter Callas de Guzmans Platz im Gefängins.) Diese Nebengestalten - Juliet und Mariana -, die in Measure for Measure nur zweitrangige Figuren sind, bekommen so in der einen Gestalt der Nanna Callas aber eine Hauptrolle. So ist es auch im Falle des Vaters, Pächter Callas: dieser basiert auf Barnadine bei Shakespeare (sowie auf Kleists Michael Kohlhaas). Bei Shakespeare ist aber Barnadine eine rein funktionelle Gestalt; der arme Pächter Callas hingegen ist bei Brecht zu einer Hauptfigur geworden. Brecht übernahm auch Shakespeares weitere Handlung in den groben Umrissen. Von Brechts elf Bildern basieren sechs im wesentlichen auf Shakespeare. Manchmal sind Elemente aus zwei Szenen von Shakespeare in einem einzigen Bild zu finden. Measure for Measure von Shakespeare nannte Brecht sein fortschrittlichstes Das Thema, wie es Brecht gelesen hat, mußte ihm schon Zusagen. Und im Vorspiel zu seinem Stück schreibt er: Ich werde euch ein Gleichnis schreiben. Die Bearbeitung für die Kopenhagener Aufführung

nannte er eine Parabel über dier Rassentheorie, und die endgültige gedruckte Fassung trägt den Untertitel ein Greuelmärchen. Das Schauspiel Die Rundköpfe und die Spitzköpfe ist also ein Stück Zeit- und Gesellschaftskritik. Es ist gegen Shakespeare nur insofern, als es die Thematik an die unmittelbaren Zeitumstände anpaßt. In diesem Sinne dürfen wir also unmittelbaren Zeitumstände anpaßt. In diesem Sinne dürfen wir also kaum von einem Gegenstück sprechen, - denn das war gerade Brechts Haltung jedem Drama und jedem Stoff gegenüber. Man durfte abändern, streichen, auf neue Grundlagen stellen. Nur so konnte seines Erachtens ein Drama am Leben bleiben. Wir können feststellen, daß die Vorgänge und die Figuren in Brechts Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe in hohem Maße auf denen von Shakespeare Measure for Measure basieren. Brechts Hauptgestalten sind aber trotz ihrer deutlichen Beziehungen zu Shakespeares Figuren eigentlich Neuschöpfungen. Auch die Thematik des Stückes ist von Brecht geändert worden: das Sittlich-

Ethische ist zum Wirtschaftlich-Ethischen geworden. Brecht zeigt die Korruption dieser kapitalistischen Gesellschaftsform und den ethischen Bankrott der Herrscher. Die Reichen bleiben oben, die Armen werden niedergedrückt. Die Aufhellung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ist in jeder Szene zu finden... Indem Brecht Shakespeare den großen Dichter des Humanismus nannte, legte er für seine Verehrung des großen Dramatikers Zeugnis ab. Was Brecht aber in seinem Stück vornahra, war nichts weniger als das, was er schon 1923 bei der Bearbeitung von Eduard 11. und was er in den zwanziger Jahren wiederholt formuliert hatte: Shakespeare wurde modernisiert, als Stoff gebraucht und dem Gesichtspunkt des Bearbeiters unterzogen. Den Materialwert von Measure for Measure hatte sich doch als groß erwiesen: das ethische Problem mußte lediglich modernisiert werden, indem das Persönliche zum Gesellschaftlichen erhoben wurde. □ Rodney Symington

Aus dem 1. Konzeptionspapier vom 2. 11. 1981 Das Greuelmärchen Rundköpfe und Spitzköpfe ist schrecklicherweise ein Gegenwartsstück. Diese Prophetie, geschrieben in den dreißiger Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, ist darum so bestürzend, weil wir heute abermals um den Frieden bangen und kämpfen müssen. Nur mit dem Unterschied, daß wir heute wissen, daß ein erneuter Krieg das Ende der Menschheit bedeuten würde. Diese Aktualität macht die Rundköpfe und Spitzköpfe selbst zur Konzeption. Wenn man die Rundköpfe und Spitzköpfe nur als „Historienstück der dreißiger Jahre auffaßt, ergeben sich

zwangsläufig Schwierigkeiten bei der Interpretation. Da offensichtlich feststeht, daß der Umbau der alten Mass-für-Mass-¥sbe\ mit den Ereignissen im Dritten Reich nicht Schritt halten konnte, das heißt, die ganze Komplexität der Hitler-Figure und ihrer Zusammenhänge mit dem Kapital auf der einen Seite und die Komplexität der Arbeiterbewegung auf der anderen Seite nicht faßbar waren aufgrund der Parabelstruktur des Stückes, und da Brecht selbst seine Lehren aus den Schwierigkeiten bei der Umsetzung historischen Materials in den Rundköpfen und Spitzköpfen in seinem Arturo Ul gezogen hat, ergibt sich die Frage der aktuellen Interpretation gerade aufgrund der Parabelstruktur des Stücks. Mir scheinU-daß das, was dem Stück als Mangel im Hinblick auf unsere heutigen Erkenntnisse über die Vorgänge im Dritten Reich angekreidet wurde, sich als ganz besonderer Vorteil für unsere gegenwärtige Situation erweist. Mit anderen Worten, das Stück hat sich nicht aufgrund einer ehemaligen historischen Situation, für die es geschrieben wurde, überlebt, sondern ist, im Gegenteil, da sich die historische Situation ge-

ändert hat, gegenwärtiger denn je, Parabel und Gegenwart treffen sich in glücklicher Weise. Aus der Antithetik der augenblicklichen Situation und dem Parabelcharakter des Stückes ergibt sich unsere Textfassung. Wir haben dabei nur auf veröffentlichte Fassungen Brechts zurückgegriffen. Die Grundlage bildet die Fassung, die in der Werkausgabe des Aufbau-Verlages erschienen ist. Um der gegenwärtigen Situation Rechnung zu tragen, wurden Teile aus der Fassung, die in der Reihe Versuche, Lieft 5-8 im Aufbau-Verlag erschienen ist, und szenische Fassungen, die in der Edition suhrkamp Bertolt Brecht: Die Rundköpfe und Spitzköpfe. Bühnenfassung, Einzelszenen, Varianten (herausgegeben von Gisela Bahr) erschienen sind, benutzt. Die Gründe für die Hereinnahme von Texten aus den genannten Fassungen Brechts ergaben sich aus dem Bestreben, das Verhältnis zwischen der Figur des Iberin und der Figur des Callas und dem Vizekönig im Sinne einer gegenwärtigen Wirksamkeit deutlicher zu machen. Wir mei-

nen dabei im Sinne Brechts zu verfahren, der seine vielen Fassungen von Rundköpfe und Spitzköpfe der jeweiligen politischen Gegebenheit angepaßt hat. Wir denken dabei nicht daran, das Stück vordergründig zu aktualisieren. Eine derartige Modernisierung wäre unserer Meinung nach nur ein formaler Modernismus und würde den Parabel-Charakter des Stückes verletzen. Wir wollen, im Gegenteil, den Parabelcharakter des Stücks im Sinne Brechts theatralisch sinnfällig machen. □ Alexander Lang

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