Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

56 Erſte Ordnung: Baumvögel; erjte Familie: Sänger.

gefangen, mit dieſen in das Zimmer gebracht, widmete ſich nach wie vor deren Pflege, fütterte und wärmte ſie und zog ſie glü>li<h groß. Etwa 8 Tage ſpäter brachte der Vogelſteller ein anderes Neſt mit jungen Rotkehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurü>behalten hatte. Und ſiehe da: als die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam jener Vogel heran, betrachtete ſie lange, eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameiſenpuppen, begann das Pflegevatergeſchäft mit der größten Emſigkeit und erzog auh dieſe Jungen, als ob es ſeine eignen geweſen wären. Naumann erfuhr Ähnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel ſchrie fortwährend und erregte dadurch die Teilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rotkehlchens. Es begab ſi< zu dem Käfige des Schreihalſes und wurde von dieſem um Futter gebeten. „Sogleich flog es zum Tiſche, holte Brotkrümchen, ſtopfte ihm damit das Maul und that dieſes endlih ſo oft, als ſih der Verwaiſte meldete.“ Auch im Freien \<ließt das Rotkehlhen zuweilen innige Freundſchaft mit anderen Vögeln. „Jn einem Gehölze unweit Köthen“/ erzählt Päßler, „iſt der merkwürdige Fall vorgekommen, daß ein Rotkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Neſt gelegt hat. Letterer hat das Neſt gebaut, beide haben je 6 Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit auf den 12 Eiern gebrütet.“

Aber das Rotkehlchen hat noh andere gute Eigenſchaften. Es iſt einer unſerer lieblihſten Sänger. Sein Lied beſteht aus mehreren miteinander abwechſelnden flötenden und trillernden Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, ſo daß der Geſang feierlih lingt. Dieſes Lied nun iſt im Zimmer ebenſo angenehm wie im Walde, und deshalb wird unſer Vogel ſehr häufig zahm gehalten. Er gewöhnt ſi< bald an die Gefangenſchaft, verliert alle Scheu, welche er anfänglih no< zeigte, und bekundet dafür wieder ſeine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menſchen gegenüber. Nach einiger Zeit gewinnt er ſeinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblihem Zwitſchern, aufgeblaſenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er viele Jahre lang in der Gefangenſchaft aus und ſcheint ſich vollſtändig mit ſeinem Loſe auszuſöhnen. Man kennt Beiſpiele, daß Rotkehlhen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im nächſten Frühjahre freigelaſſen worden waren , im Spätherbſte ſi< wiederum im Hauſe ihres Gaſtſreundes einfanden und dieſen gleihſam baten / ſie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus- und Einfliegen gewöhnt; einige Paare haben ſi< im Zimmer auh fortgepflanzt.

Das Notkehlchen erſcheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend erlaubt, hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling verkündet, oft no viel von Kälte und Mangel zu leiden. Es reiſt des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin und ſenkt ſi< mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüſche und Gärten hernieder, um ſich hier zu ſättigen und auszuruhen. Sobald es ſich feſt angeſiedelt hat, tönt der Wald wider von ſeinem ſcallenden Gelo>e, einem ſcharfen „Schni>erikik“/ welhes oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt; der erſte warme Sonnenbli& erwe>t au< den ſchönen Geſang. Geht man ſeinen Tönen nah, ſo ſieht man das auf dem Wipfelzweige eines der höchſten Bäume der Di>kung ſißende Männchen aufgerichtet, mit etwas herabhängenden Flügeln und aufgeblaſener Kehle, in würdiger, ſtolzer Haltung, ernſthaft, feierlih, als ob es die wichtigſte Arbeit ſeines Lebens verrihte. Es ſingt bereits in der Morgendämmerung und bis zum Einbruche der Nacht im Frühlinge wie im Herbſte. Sein Gebiet bewacht es mit Eiferſucht und duldet in ihm kein anderes Paar; aber der Begirk des einen Pärchens grenzt unmittelbar an den des anderen. Fnmitten des Wohnkreiſes, welchen eins ſih erwarb, ſteht das Neſt, ſtets nahe an oder auf dem Boden, in Erdhöhlen oder in ausgefaulten Baumſtrünken, zwiſchen Gewurzel, im Mooſe, hinter Grasbüſcheln, ſogar in verlaſſenen Bauen mancher Säugetiere 2c. Dürre Baumblätter, mit denen