Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

3. Schon an den Augen unseres Versuchsobjekts Michaela IV, 2, aber auch an den offenen Augen der Frau Montessori IV, 8 fiel uns eine Spannung des oberen Augenbogens auf, die auf eine Gegenwirkung des Schließmuskels hinweist. Dieser muß also bei der offenen Einstellung nicht immer ruhen, seine Wirkung tritt jedoch hinter der des Augendeckelhebers zurück. Der - Wirkung des Schliefmuskels entspricht ein Willenselement im Menschen: zur Empfänglichkeit gesellt sich die Willensstärke. Wir beobachten hier immerhin einen abdeckenden Faktor im Blick und lernen also, daß die Abgedecktheit nicht nur ein räumliches, sondern auch ein dynamisches Merkmal sein kann. Wir finden keine Abgedecktheit, aber die Wirkung der abdeckenden Kraft. Ein solches Merkmal der Wirkung, der Kraft, ist eigentlich kein meßbares Merkmal mehr und Spannung im oberen Augenbogen keine räumliche Beschreibung; wir sind also unversehens von unserem guten Vorsatz abgewichen, doch ist dies nur zu begreiflich, denn es ist wirklich eine der ersten Tatsachen, die wir bei der Ausdrucksbeschreibung erkennen, daß wir Vorhandensein oder Fehlen der Spannung an einem Muskel oder einer Körperpartie tatsächlich sehen können! Aber freilich, mögen wir darin noch so viel Übung haben, die Diagnose Spannung ist keine Beschreibung, sondern bleibt lediglich Deutung, ein Erraten, und wir dürfen uns damit nicht abfinden, wir müssen vielmehr trachten, auf die räumlichen Veränderungen selbst zurückzugreifen, denn nur solche gewahrt unser prüfendes Auge unmittelbar. Spannung drückt sich anders beim einzelnen Muskel aus, wo sie einen stärkeren Verkürzungszustand schafft, anders im Gegenspiel antagonistischer Muskeln (z. B. von Beuge- und Streckmuskeln, wenn wir den Arm in Beugestellung spannen), wo sie vor allem das Nachbargelände stärker in Mitleidenschaft zieht; die Spannung pflanzt

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