Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

gert, hier der Strenge der sittlichen Auffassung wie der musikalischen Stilform. Dagegen sind es die hochgestellten Augenbrauen Goethes auf dem Bilde von Kügelgen (II, 4), die diesem Blick den Ausdruck voller, unvergleichlicher Empfänglichkeit geben, sogar unbeschadet der Andeutung senkrechter Stirnfalten, die auf Sammlung im Gedanklichen deuten (vgl. später die Einstellungen der Stirn). Die Lideinstellung besteht also aus zwei Momenten: der Lidöffnung und der Lidspannung (Fig. 11).

Wir stellen nun, als erste Rubrik unserer Augentabellen die Rubrik „Offener Blick“ auf und tragen da ein: Empfänglichkeit, Erwartung, Aufmerksamkeit. Werden wir aber auch die anderen beobachteten Eigenschaften eintragen: Willensstärke, Lebhaftigkeit, Strenge? Nein! Denn die gehören ja in die Rubrik „Abgedeckter Blick“. Wir würden ein heilloses Durcheinander schaffen, wollten wir alle seelischen Haltungen und Charakterzüge in alle Rubriken eintragen, wo sie möglicherweise auftreten können. Wir tragen sie nur dort ein, wo sie wirklich dem betreffenden Ausdruckszug charakteristisch zugeordnet sind und nicht nur aus seiner durch eine Gegenwirkung erzeugten Gespanntheit erraten werden. Wir haben es eben auch in der Ausdrucksforschung nicht immer mit typischen Einstellungen zu tun, sondern häufig auch mit gemischten. Aber hier kennen wir die Bedeutung der Komponenten, anders als in der Konstitutions- und Rassenlehre, deren Gegenstand nicht individuelle Merkmale, sondern Typen sind.

Es zeigte sich somit als notwendig, bei der Beurteilung einer Ausdruckspartie stets das Nachbargelände im Auge zu behalten. Doch auch der gegenteilige Weg ist daneben anzuraten: möglichst die ganze Umgebung des beobachteten Punktes zuzudecken und zu sehen, wieviel man dann noch beschreiben und beurteilen kann. Denn wir

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