Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

also auch weniger deuten können: jede Unbestimmtheit in der Beschreibung zieht notwendig eine Unbestimmtheit der Deutung nach sich, bietet somit eine größere Anzahl von Möglichkeiten innerhalb eines Deutungsspielraumes. Möglichkeiten also auch von fehlerhaften Deutungen. Und wie oft werden sich solche Unbestimmtheiten bei der praktischen Analyse ergeben, sei es, weil die Physiognomie selbst zurückhaltend ist, sei es, weil in den uns zur Verfügung stehenden Bildern, besonders in Photos, oft wichtige Merkmale, etwa Falten, einfach wegretuschiert sind. Merken wir uns also als Leitsatz für unser Verfahren, daß diesem jeweils eine Grenze gesetzt ist: Man kann aus einem Bilde nicht mehr herauslesen, als darin steckt. So selbstverständlich dieser Grundsatz auch erscheint, so häufig wird doch gegen ihn gesündigt.

Anderseits aber kann man zuweilen aus einer Physiognomie mehr herausholen, als es die heute wissenschaftlich mögliche Ausdrucksanalyse zu leisten vermag. Aber ein solches Mehr beruht auf Intuition, auf der oft naturgegebenen Einfühlung des Menschenkenners und nicht auf einer Diagnose nach wissenschaftlich einwandfreien Merkmalen. Doch halten wir fest: nur soweit ist die Physiognomik eine Wissenschaft, als sie Indizienmethode ist, wie Bühler sie nennt. Die auf Einfühlung, auf dem Mitschwingen der eigenen Seele mit der fremden beruhende Resonanzmethode ist eher Kunst als Wissenschaft. Wir werden sie vielleicht nie ganz entbehren können, weder für das Erraten der allereinfachsten Ausdruckszüge noch für die schließliche Rekonstruktion des ganzen Charakterbildes, welches die durch die Analyse gewonnenen Teile zu einem Ganzen zusammenfügt — aber wir bleiben uns dessen bewußt, daß dieser Teil des Verfahrens nicht wissenschaftlich ist — es vielleicht noch nicht ist.

Einstweilen können wir die Resonanzmethode auch

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