Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen

XVI

Gang ein Individuum. Nicht ein Mädchen trägt das faltenreiche Gewand ganz wie die Nachbarin, nicht ein Jüngling faßt den Opierkrug, den schönen, wie der Nachbar, nicht ein Reiter sitzt so zu Pferde wie die Genossen, obwohl sie alle vollendete Reiter sind, so daß man Wesen und Sinn dieser edlen Kunst ihrem Sitz und ihrer Haltung ablernen könnte, kein Gespann wirft so die Köpfe und hebt und setzt so die Füße wie das voraussprengende oder nachfolgende. Mit spielender Leichtigkeit ist der wahrhaft ungeheure Reichtum plastischer Motive der glatten Marmorfläche aufgezwungen, ohne daß man einen Augenblick ein Nachlassen der Erfindungskraft spüren könnte. Das ganze Werk ist mit dem sichersten Sinn für das menschlich und künstlerisch Wohlanstehende entworfen und vollendet.

Endlich die Giebelgruppen. Nur geringe Reste von beiden sind erhalten. Im Gefolge der schrecklichen Pulverexplosion, die im Jahre 1687 die Flanken des Tempels zerriß, müssen auch diese Teile gelitten haben. Aber das Erhaltene ist so überwältigend, daß man vergißt, nach dem Verlorenen zu fragen, zumal es doch einmal unersetzlich bleibt.

Welch Sturm in den hochgeworfenen Häuptern der Sonnenrosse im südlichen Winkel des Ostgiebels, welches Feuer in dem abwärts gebeugten Haupt, dem einzig erhaltenen aus Selenes nächtlichem Gespann in der nördlichen Giebelecke. Der Knabenhaftigkeit des arg verstümmelten Ilissos mit der weichen schimmernden Haut steht die männliche Jugend des Theseus gegenüber. Hier erst sind die Figuren nicht durch gegenständliche Motive aufeinander bezogen, sondern durch die von der rein plastischen Phantasie des Künstlers erfundene Notwendigkeit zu unlöslichen Gruppen gefügt. Der mit aufgerichtetem Oberkörper gelagerte Gott im Westgiebel, an den sich die knieend zurückweichende Göttin erschreckt anschmiegt, seinen Nacken zutraulich mit einem Arm

umfassend, die beiden thronenden Göttinnen im Östgiebel und die ihnen entsprechende große Gruppe der Schicksalsgöttinnen, oder wie man sie sonst benennen will, mädchenhaft anmutig aneinandergeschmiegt und wieder jede einzelne in vollkommener Entwicklung des herrlichen Leibes sitzend oder offen gelagert, zierlich trotz der vollkommenen Reife jeder Form.

Das Unendliche dieser Gestalten liegt nicht darin, daß sich in ihnen vereinigt zeigt, was wir im Leben nur getrennt anzutreffen hoffen dürfen, sondern in der ergreifenden Bescheidenheit, womit der Reichtum künstlerischer Form vorgetragen wird, und in der außerordentlichen Ruhe und Sicherheit, womit den Empfindungen Gestalt gegeben ist, der unaussprechlichen Hoheit und dem doch so tröstlich Anteilnehmenden, freundlich sich Zuneigenden dieser Göttinnen. Kein Gedanke an den Künstler taucht auf, man steht ganz allein den Marmorbildern gegenüber, deren Anblick tröstet, „wie einen seine Mutter tröstet“.

13),

Den Forschungen und Ausgrabungen des verflossenen Jahrhunderts verdanken wir mehr von unserer Kenntnis der antiken Kunst, als den früheren Jahrhunderten zusammengenommen. Ägina, Olympia, Athen, Halikarnaß, Pergamon, die großen Etappen in der Entwicklung der griechischen Kunst, sind uns erst im Verlauf der letzten hundert Jahre bekannt geworden.

Diese außerordentliche Bereicherung unseres Besitzes mußte das Urteil im Großen und im Einzelnen beeinflussen. Wir sind nicht mehr geneigt, die Mannigfaltigkeit der Formen unter ein charakterisierendes Schlagwort zusammenzufassen, das den griechischen Künstlern irgend eine formale Tendenz unterschieben würde, die ihnen gewiß ferngelegen hat. Aufrichtigkeit aber und Gesundheit waren die Lebenselemente der griechischen Kunst.

MAX SAUERLANDT.