Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1
20 Ein Bli>k auf das Leben der Geſamtheit.
umherſtreifen, in der Abſicht, ſih eine Gattin zu ſuchen, und läßt es ſich entſhuldigen, daß dieſe dann auf die Heiligkeit der Ehe nicht immer gebührende Rückſicht nehmen, vielmehr einem verehelihten Vogel ihrer Art ſein Geſpons abwendig zu machen ſuchen. Die notwendige Folge von ſolch frevelhaftem Beginnen und Thun iſt, daß der Eheherr den frechen Eindringling mit allen Kräften zurüzuweiſen ſucht, unter Umſtänden alſo zu Thätlichkeiten übergehen muß: daher denn die beſtändigen Kämpfe zwiſchen den männlichen Vögeln während der Paarungszeit. Wahrſcheinlih macht jeder einzelne Ehemann böſe Erfahrungen; vielleiht ift auh ſein Weib „falſcher Art, und die Arge liebt das Neue“: kurz, er hat alle ſeine Kräfte aufzubieten, um ſi ihren Beſiß zu erhalten. Eiferſucht, wütende, rü>ſihtsloſe Eiferſucht iſt ſomit vollkommen entſchuldigt. Allerdings gibt es einzelne Vogelweibchen, welche dann, wenn ſich ein ſoler Eindringling zeigt, mit ihrem Gatten zu Schuß und Trug zuſammenſtehen und gemeinſchaftlih mit leßterem über den Frevler herfallen; die meiſten aber laſſen ſih ablenken vom Pfade der Tugend und ſcheinen mehr am Manne als an einem Manne zu hängen. Man hat ſonderbare Beobachtungen gemacht. Vögel, deren Männchen getötet wurde, waren ſchon eine halbe Stunde ſpäter wieder vereheliht; der zweite Geſpons wurde ebenfalls ein Opfer ſeiner Feinde: und dieſelben Weibchen nahmen ohne Bedenken flugs einen dritten Gatten an. Die Männchen legen gewöhnlich viel tiefere Trauer um den Verluſt ihrer Gattin an den Tag, wahrſcheinlih aber nur, weil es ihnen ungleith ſhwerer wird als den Weibchen, wieder einen Chegenoſſen zu erwerben.
Die männlichen Vögel werben unter Aufbietung ihrer vollen Liebenswürdigkeit um die Weibchen, einige dur ſehnſüchtiges Rufen oder Singen, andere durch zierlihe Tänze, andere dur Flugſpiele 2c. Oft wird die Werbung ſehr ſtürmiſh, und das Männchen jagt ſtundenlang hinter dem Weibchen drein, dieſes ſ{heinbar im Zorne vor ſi hertreibend; in der Regel aber erhört das Weibchen ſeinen Liebhaber bald und widmet ſih ihm dann mit aller Hingebung. Fn ihm iſt der Geſchlehtstrieb niht minder mächtig als in dem Männchen und bekundet ſih in gleicher Stärke in früheſter Jugend wie im ſpäteſten Alter. Hermann Müller beobachtete, daß ein 6 Wochen alter Kanarienhahn ſeine eigene, zur Begattung lo>ende Mutter betrat, und daß ein im Juli dem Eie entſhlüpftes Baſtardweibchen vom Stiegliß und Kanarienvogel bereits im Dezember ſich liebestoll zeigte, erhielt aber auh von zwölfjährigen Kanarienhähnen noch kräftige Bruten. Derſelbe hingebende und verſtändnisvolle Beobachter erfuhr von ſeinen mit Liebe gepflegten, äußerſt zahmen Stubenvögeln, daß der Fortpflanzungstrieb ſih au< geltend macht, wenn zwei Vögel desſelben Geſchle{htes zuſammenleben, und ſich ſelbſt dann dur Niſten, Legen und Brüten äußert, wenn keine Begattung ſtattgefunden hat. Paarungsluſtige Vögel erkennen das entgegengeſeßte Geſchlecht andersartiger Klaſſengenoſſen ſofort, unterſcheiden ſogar männliche und weiblihe Menſchen genau: Vogelmännchen liebeln mit Menſchenfxauen, Vogelweibchen mit Männern. Beide Geſchlechter gehen auh Miſchehen der unglaublichſten Art ein: ih ſelbſt beobachtete daß Storch und Pelikan ſich eheliche Liebkoſungen erwieſen. Die Begattung findet zu allen Stunden des Tages, am häufigſten wohl in der Morgen- und Abenddämmerung ſtatt, und wird oft wiederholt, no< öfter erfolglos verſucht.
Schon während der Liebesſpiele eines Pärchens ſucht dieſes einen günſtigen Plag für das Neſt, vorausgeſeßt, daß der Vogel niht zu denjenigen gehört, welche Anſiedelungen bilden und alljährlich zu derſelben Stelle zurückkehren. Jn der Regel ſteht das Neſt ungefähr im Mittelpunkte des Wohnkreiſes, nah der Art ſelbſtverſtändlich verſchieden. Streng genommen findet jeder paſſende Plaß in der Höhe wie in der Tiefe, auf dem Waſſer wie auf dem Lande, im Walde wie auf dem Felde ſeinen Liebhaber. Die Raubvögel bevorzugen die Höhe zur Anlage ihres Horſtes und laſſen ſih ſelten herbei, auf dem Boden zu niſten; ¡aſt alle Laufvögel hingegen bringen hier das Neſt an; die Wald- und Baumvögel ſtellen