Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

Napoleon zu ſeinen Generalen. 307

gang für mögli erachtet hätte. Er beſchloß, ſi zuerſt gegen die beſten Truppen und die beiden erſten Generale der Koalition, Blücher und Wellington, zu wenden , ſich zwiſchen ſie zu werfen, ſie einzeln zu \{<lagen, dann über den zunächſt ſtehenden Feind herzufallen, um ſo die Disproportion der Kräfte auszugleichen. Nach den Siegen über die Armeen hoffte ex auf günſtige Unterhandlungen mit den Höfen. Ein zweites Marengo lag in ſeinem Sinn.

Außer der numeriſchen Schwäche ſeiner Streitmacht war Napoleon in dieſem Kriege, in Bezug auf ſeine Unterfeldherren und ſeine nächſten militairiſhen Umgebungen, niht mehr ſo günſtig wie früher geſtellt. Es war hierin eine große Veränderung vorgegangen. Alexander Berthier, von dem Kaiſer zum Fürſten von Neufchatel und Wagram erhoben , von der Schlacht von den Pyramiden an bis zu der von Montmirail der Chef ſeines Generalſtabes, der Vertraute ſeiner Gedanken und treue Vollftre>er ſeiner Befehle, war, zwiſchen ſeiner Pflicht gegen Ludwig XVII. und der Anhänglichkeit an ſeinen früheren Gebieter getheilt, na<h Deutſchland geflohen, wo er einige Wochen ſpäter ein trauriges Ende nehmen ſollte. An ſeine Stelle ſette Napoleon den Marſchall Souït, der, als Kriegs= miniſter Ludwig XVIIL., nah Napoleon?s Landung, in einer Proklamation an die Armee, von dem Kaiſer wie von einem Räuberhauptmann ge= ſprochen hatte. Napoleon hatte ihn nah feiner Ankunft in Paris, wie Benjamin Conſtant, rufen laſſen, und Soult war ſogleich erſchienen. Beide glaubten einander niht entbehren zu können. Aber ein aufrichtiges Verhältniß war bei dem friſchen Eindru>ke deſſen, was vorgefallen, nicht mögli. Soult bewies während dieſes Feldzuges in der That nicht den Eifer und Nachdru>, an die man fouſt bei ihm gewöhnt war. Ney war in ſi zerriſſen. Seine heftige Erklärung gegen Napoleon und ſein plöß= licher Vebertritt zu ihm verwirrten ſein Gewiſſen und lähmten ſeine Kraft. Er zeigte ſich in dieſem Kriege bald leidenſchaftlich aufgeregt , bald unſicher und abgeſpannt. Der Marſchall Davouſt war in Paris als Kriegsminiſter zurü@geblieben, Maſſena, in früheren Kriegen Napoleon?s rechter Arm, fonnte ſeines hohen Alters wegen mehr kein Kommando übernehmen. Mortier war, nah einiger Zögerung, erſchienen, wurde aber unmittelbar vor Ausbruh des Kampfes krank, und ſeine Erfahrung und Feſtigkeit gingen für Napoleon verloren. Die Marſchälle Macdonald, Victor, Oudinot, Marmont , Gouvion St. Cyr, die Generale Lauriſton, Se-= baſtiani, Maiſon, Deſſolles fehlten dem Kaiſer. Die Generale, welche an die Spiße der einzelnen Korps und Diviſionen geſtellt worden, waren zwar tüchtig und erprobt, aber früher meiſt nur in untergeordneteren

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