Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 4.

Roman von Georg Hartwig. E 95

Die Stiftsdame hatte kaum die Hälfte des Weges zurü>gelegt, als plößli<h ein lauter Ruf der Freude und Veberraſchung an ihr Ohr traf. Sie wandte ſih um und ſah aus allernächſter Nähe in das blühende, vom eiligen Lauf ſtark geröthete Antliß Dreyſing's.

Er hielt ihr beide Hände entgegen. Che ſie die ihren hineinlegen fonnte, hatte der Juſtizrath ſie bereits erfaßt und mit einer Jnnigkeit gedrückt, welche wohler that als alle Worte der Welt.

„J<h weiß, ih weiß Alles!“ flüſterte der alte Herr, die hohe ſ<hwarzgetleidete Geſtalt flüchtig muſternd. „Sie haben ſchweres Leid erfahren — aber niht das ſ{<werſte! Hätte ih gewußt, daß «Sie anweſend waren —“

„Warum kamen Sie nicht zu meinem Neffen? Warum fehlten Sie, gerade Sie bei der Beerdigung ſeiner Gattin?“ fragte die Stiftsdame ſehr ernſt.

„Sh, ih — es wax mix unmöglih, Meiſchi>k nah jener Soirée bei dem Präſidenten v. Exleben wiederzuſehen. Unmöglich bis jeht auh, ihm ein Troſtwort zu ſagen. Sie mögen mich tadeln, wie Sie wollen !“

Tante Käthe ſah ihn lange an. „Dreyſing, mein Freund, es ahnte mix, daß in jener Nacht — geben Eie mir Wahrheit, es iſt Jhre Pflicht !“

„Haben Sie nicht exſahren —?“ Ex brach ab, zweifel= Haft, ob dieſe verſpätete Kenntnißnahme der Fragenden zum Heil gereichen fönne.

„Nichts! Aber daß Hans Meiſchi> im allerſ<hwerſten Seelenkampfe heimkam, das, o, das las i< ihm von der Stirn, Wen ſah ex? Wen ſprach er?“