Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Novelle von E. Mert. : 123

eine ſreudloſe Jugend gehabt; die ‘Mutter wax früh geſtorben, ihr Vater, ein grämlichex penſionixter Beamter, kümmerte - ſi in ſeinem verbitterten egoiſtiſhen Weſen wenig um die Bedürfniſſe einer jungen Seele; ex ahnte niht, wie Heiß und glühend ſi<h das Herz ſeiner Tochter hinaus= ſehnte aus dem öden, nüchternen Heim. Bertha’'s Wünſche galten nur ſelten einem ſtillen Eheglü>k;, ihr Spiegel ſagte ihr deutlich genug, daß ſie niht hübſch genug ſei, um Liebe einzuflößen, während ſie ſelbſt zu wenig Vexfehr beſaß, um ſi< von den Männern eine beſſere Vor= ſtellung machen zu können, als die, welche ihr Vater und deſſen mürriſche Freunde ihr nahe legten. Sie begehrte von der Zukunſt ein bewegtes, thätiges Daſein, Abwechs= lung, geiſtige Anregung, und arbeitete im Stillen an dex Erziehung und Fortbildung threr eigenen Perſönlichkeit, ohne in ihrer dumpfen Umgebung den Schwung ihrer Seele zu verlieren. Sie fühlte eine ſ{lummernde, enex= giſche Kraft in ſi, und es empörte ſie, daß ſie im ſtillen, einförmigen Winkel ſißen mußte.

Sie würde na<h dem Tode ihres Vaters wohl irgend einen ſelbſtſtändigen Beruf gewählt haben, wenn nicht Emilie in ihr Leben getreten wäre, Dieſe hatte ſeit einigen Fahren mit ihrer Mutter im gleichen Hauſe wie Bertha gewohnt; die hübſche, anmuthige Blondine war dem einſamen Mäd= chen gerade um des Kontraſtes zu der eigenen Perſönlich= keit wiſſen als ein ſehr beneidenêwerthes Geſchöpf er= ſchienen, und Bertha hatte von je großes Jntexeſſe für die junge Frau gefühlt. Eine Annäherung hatte jedoch niht ſtattgefunden, weil Emiliens Mutter, Frau Präſidenten=