Bitef

ein explosiver abend

Ein explosiver Abend. Der aufregendste in dieser Spielzeit im Schiller-Theater. Engagiert diskutierend wie selten, strömte ein erregtes Premieren-Publikum am Sonntagabend aus dem Schiller-Theater.

Lietzaus Bond-Schau setzt kühn an. Sie wagt viel. Sie ist schrill, grell. Sie hebt Bonds oft in nebulösen Tiefen absinkende Metaphern in die zwingenden Bilder einer schaurig-schynen Moritat. Die Welt ist ein Schlachthaus, und die Schlächter sind Puppen. Gesichtslos, nur aus Sehschlitzen unter Strumpfmasken hervorblickend, metzeln die Töter und krepieren die Opfer. Menschenantlitze tragen nur die Geflüchteten im Wald, die Liebenden, die Mitleidenden, bis auch sie ihre Gesichter verlieren, wenn sie zu den Herrschenden einer neuen Ordnung aufsteigen. Diese blutig-grotesken Comedia-dell'-ArteFiguren töten und quälen sich in einem nach vorn angekippten Schlammkasten, den rosa Gedärm füllt und ein rotes Kreuz durchschneidet. Blutspuren an den schwarzen Wänden und ein Horizont dahinter, der rot aufglühen, düster dünsten oder stimmungshaft dämmern kann. In diesem kühnen Entwurf (Bild: Achim Freyer] stellt sich das Ensemble in seltener Anspannung. Alle Routine war weggeblasen. Genaue Momentbelichtungen noch in den kleinsten Auftritten: bei Holger Kepich, bei Friedhelm Ptok, bei Nikolaus Paryla; man kann die Darstellerpalette nicht vollständig nennen. Ernst Schröder als Lear aber trug den Abend darstellerisch erst ganz in seine Bedeutung, Schröder steht fast pausenlos auf der

Bühne. Er tritt als der sachliche, entmenschte Gewalthaber ins erste Bild; roter Samt schmückt diesen Lear, der sich dann In einen schwarzen zerlumpten Fleischklumpen verwandelt. Schröder zeigt Lears Erkenntnisprozeß. Sein »Wahnsinn« ist ein zartes Hineinwachsen in Menschkeit. Er gewinnt sich vermummt und verlarvt und jenseits jeder billigen Wehmut eine neue Innerlichkeit, die man so an diesem Darsteller noch nicht erlebte. Carla Hagen und Reinhild Solf Lears zur Grausamkeit erzogene und so dann losgelassene Töchter agieren wie hysterische Mordpuppen: zwei Alpe aus schrecklichen Comic strips. Exzellent. Fritz Lichtenhahn als Totengräbersohn später als Geist wahrhaft zu gespenstischer Dürre abmagernd und Gisela Stein als Cordelia waren weitere entscheidende Energien in dieser hoch und genau besetzten Aufführung. Die Inszenierung, Bonds Schreckensvision in immer neuen Bildern heraustreibend, findet am Ende nichts als das Schweigen. Der robebnde blinde Lear kriecht zur Mauer, die er einreißen will. Scheinwerferkegel fangen ihn ein. Maschinengewehrfeuer bellt auf, Schweigen ... bis sich die Erschöpfung, die Anspannung, der Widerstand lösten in Beifallskundgebungen für das Ensemble, für Schröder, für Lietzau. (Horst Windelbothj

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