Bitef
fende Faust noch einmal auf eine großartige, alle Vergeblichkeit schön ignorierende Reise durchs Leben als einer mühseligen Erinnerung. Und neben Minettis Kopf war jede Metaphysik Nebensache. (Er spielte Fausts letztes Band, einen Kerl von Beckett.) Grüber hatte aber auch zum ersten Male dieses Stück seinem Titel zurückgegeben: bei ihm war wirklich Faust die Hauptperson. Gründgens inszenierte ja wohl allemal ein Stück namens Mephisto, Peymann eines namens Achim Freyer oder: Der Bühnenbildner. Jetzt, bei Jürgen Flimm in Köln, ist der Hauptdarsteller fast die ganze Zeit abwesend. Er residiert irgendwo überm Schnürboden. Oft werden Fäuste in seine Richtung gereckt, Fratzen da hinauf geschnitten, anzügliche Bemerkungen gemacht. Die Enttheologisierung des Faust scheint zu Ende, Gott spielt wieder mit. Und er spielt den Menschen (und den Teufeln) übel mit. Denn Gott ist nicht tot. Gott ist die Hölle. Also kommt es auf den Satan auch nicht mehr an. Jürgen Flimm hat, den Empfehlun-
gen des Göttinger Germanisten Albrecht Schöne folgend, die von Goethe beim Druck des Faust weggelassenen Passagen zur Walpurgisnacht spielen lassen. Im Text ist das eine, wie Albrecht Schöne vermutet, für die Augen und Ohren der Biedermeierdeutschen unzumutbare schwarze Messe, ein Hexensabbat, eine Feier der Schwänze und Schöße und vor allem des Mammon, ein vollkommenes Gegenstück zum Prolog im Himmel. Nun aber, auf der Kölner Bühne, wirkt es seltsam fade. Faust küßt dem Teufel den Hintern und wäre beinahe den „Äpfelchen“ einer Hexe verfallen, erschiene ihm nicht das Traumbild Gretchens. Dies Bild aber besteht in Köln nur aus einer Puppe, welcher der Kopf herunterfällt: Die himmlischen Mächte haben sich einen makabren Scherz erlaubt. Die satanischen Mächte dagegen machen auf öde scherzhafte Weise Ernst. Satan ist eine gewaltige Stier-Gestalt mit entblößtem männlichem Genital, auch so~eine Art Puppe. Seine Truppe besteht aus Karnevalslemuren in schwarzem Leder. In dieser Welt ist es gleichgültig, wohin sich - erlöst oder unerlöst jemand wendet. Fausts Weg in die
Hölle ist reiner Zufall. Der . Satan und der Gott: beide sind sie dieselben biede Vertreter unmenschlicher, jenseits des Menschen liegender Prinzipien. Flimm theologisiert sehr ernsthaft den Faust - um ihn um so triftiger wieder enttheologisieren zu können. Sein Faust ist der menschlichste seit langem. Aber auch der mitleidigste, weil trostloseste. Kein Trost für die Menschen im Himmel und in der Hölle, denn beide sind identisch und weit weg. Kein Trost auch im Theater, im Hokuspokus; das Vorspiel auf dem Theater entfällt und somit auch die Schimäre, dies sei nur alles Schein. Kein Trost aber auch im Bewußtsein, in der Erinnerung; denn dazu brauchte es eine Welt, eine Geschichte, eine Vergangenheit. Die Welt aber, die der Bühnenbildner Erich Wonder schafft, ist längst „aufgehoben“: Türme und Traumstädte, zusammengesetzt aus Nürnberg, Köln und Schwäbisch Hall oder sonst woher, schweben auf Gazevorhängen über der Bühne. Gespenstische Lichterbäume wie aus Beton wachsen vom Himmel herunter. Quader, Bunker und düstere Monu-
mente verstellen die Wege der Liebenden und Lebenden. Und Faust haust auf einem achteckigen Podest unter einer Art großer Operationslampe: Ein schwarzes Insekt, ein komischer kafkaesker Käfer - der Professor in der Maske des Vergangenem. Hans-Christian Rudolph trägt eine Habermas-Larve, ein Übriggebliebener der Frankfurter Schule, ein Opfer des dialektischen Strukturwandels. Der Vernünftler, der einst wider das Irrationale kämpfte, giert jetzt nach dem, was er ausgerottet hat: Die Metaphysik macht ihm Koliken und Herzflimmern in einem, nach ihr tobt er sehnsüchtig und angeekelt zugleich. Er reißt wütend Blätter aus Nostradamus’ Buch und halt’s dann doch wie ein onanistisches Instrument vor seinen Unterleib. Wenn die Osterglocken erklingen und ihn am Selbstmord durch Gift hindern, hat er einen Wutanfall. Die himmlischen Mächte machen mit ihm ihren ersten Scherz. Die Kosten trägt der Mensch: er muß weiterleben. Mephisto ist da nichts weiter als ein ziemlich verdrossener Überlebenshelfer, ein Kerl im offenen Samtmantel, Zylinder, roten Stock. Kein Teufel mehr, sondern nur noch ein
Zyniker, der einen unnützen, von vornherein gewonnenen, albernen Auftrag ausführt. Der größte, weil traurigste Komödiant im Kölner Ensembele, Wolf-Dietrich Sprenger, spielt die Aufsässigkeit, das Rebellenhafte dieses Höllenangestellten wundervoll. Da macht einer dauernd mehr Spesen als ihm zustehen. Da spielt einer Rollen, die er eigentlich nicht übernehmen darf. Wenn Gretchen sich mit ihrer „Sünde“ im Dom windet, hängt Mephisto mit der Dornenkrone auf dem Haupte am Kreuz, ein höhnender, spottender Christus, den Sprenger gleichzeitig sich sehnen läßt nach dieser heiligen Rolle, diesem Schein einer Chance, die ganze Menschheit zur erlösen. Er aber hat nur einen Menschen, Faust, dorthin zu bringen, wohin er von vornherein gehört: ins Unglück. Die Gretchen-Geschichte ist für diesen Faust keine Tragödie, an welcher er schuld hätte, sondern eine schöne, zarte Utopie. Susanne Lothar als Gretchen: sehr herb, etwas derb, aber wunderbar „verloren“ in einer Liebesgeschichte, von der sie sehr wohl ahnt, daß aus ihr nichts wird. Küsse und das bißchen Streicheln in
Marthe Schwerdtleins Garten sind die einzigen, raschen, wahren Momente. Schon Meine Ruh ist hin ist nurmehr ein wahnsinniger, kaum geglaubter Traum, der Rest ein Unglück, an dem die himmlischen Gesetze (Sühne für Sünde) und die höllischen Prinzipien (Lust nur für eine Nacht) mehr unmenschlichen Anteil haben als die Schuld- und Unschuld-Möglichkeiten dieser beiden Menschen, Im Kerker zelebriert dann auch keine Verrückte ihren Schmerz über ein ermordetes Kind, eine vergiftete Mutter, einen getöteten Bruder. Da bilanziert eine sehr vernünftige, immer noch liebende, letzte Küsse und Zärtlichkeiten wagende Frau ihr schreckliches Leben. Sie hatte genau wie Faust keine Chance. Aber sie hat sie genau wie Faust wenigstens genutzt. Sie wird - Gerettet! - in den Himmel einge-
hen, Faust -Herzu mir!- in die Hölle. Beides bleibt sich gleich. So ist Jürgen Flimms großer Faust auch ein sehr radikaler, pessimistischer Faust, ein fesselndes Spür- und Denkvergnügen, eine Trauerarbeit im Menschlichen, das nie ewig ist, sondern mit uns vergeht. Ewig sind nur Himmel und Hölle Unmenschlich. [Gerhard Stadelmaier]
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