Bitef
Firs: Vergessen. Keiner erinnert sich daran. Auf der Landkarte des Vergessens sind alle Zeitalter eingeschrieben, nicht nur Gegenwart und Zukunft, auch die Vergangenheit hat hier ihren Platz und firmiert nicht als verlorenes Paradies. Menschen, denen die Zeit eher gleichgültig ist, verflöchtigen sich selbst und lassen sich nur schwer bestimmen. Der Versuch gliche einer ornithologie ohne Vögel, da sich die lebendigen Exemplare schon davongestohlen haben. Was, wenn nicht an Zeit, sei es vergangene oder kommende, interessiert die Bewohner des Gartens samt seiner gebannten Früchte? Sich wie die Vögel davonzumachen, endlich heraus aus der Zeit in einen zeitfreinen Zustand, da die erlebte Zeit auf dem Leben lastet? Das könnte schon das Ziel einer ständigen Zerstreuung sein: das Leben zum Spiel zu machen. Caev: Vom Ball rechts in die Ecke! Karambolage in
der Mitte. (1. Akt) Die Regeln des Spies sind eunfach und die ördnung vollkommen. Auch wenn der Ausgang immer anders ist, ist nichts endgültig, das Spiel kann immer neu beginnen, die Lebenszeitalter haben sich im Spiel auf. Caev: Der Zug... die Station... Croisée in die Mitte, den Weißen mit Doubiette in die Ecke... (4. Akt) Zwischen der „Karambolage in der Mitte" und „Den Weißen mit Doubiette in die Ecke” ist ein halbes Jahr verronnen, das Cut mit dem Kirschgarten wurde von Lopachin ersteigert, doch die Zeit zwischen beiden Sätzen stand still. Hier bleibt übersichtlich, was in der Gegenwart nicht überschaubar ist. Sie scheint ein Vakuum zu bilden, ein „Nicht mehr” und ein „Noch nicht”, dazwischen das Jetzt, eingesperrt wie die Früchte in ihren Blüten, Zeit ins Stolpern geraten, unsicher im Schritt unter einem verdunkelten Horizont. Gegenwärtige Zeit, die zum Sklaven von Menschen verkam, die alle Bewegungen meiden und ihr Pendel anhalten wollen. Die sich dennoch bewegt und ihre Fürsprecher sucht, sich auflöst und die Besitzer des Kirschgartens zu Tode erschreckt. Daß sie ihr Leben nicht mehr vor sich haben, das können sie nicht verstehen, da sie den Hunger des Clowns immer noch teilen. Mit offenen Mündern und traurigen Augen bestreiten sie frech, daß das Leben lebt, da das Sterben sie bereits einholte. Im Vakuum läßt es sich aber schlecht atmen, es verwehrt den sicheren Stand, den der Schein der Vergangenheit bereithält. Daß nichts mehr sicher ist, Gewißheiten zusammenbrechen, teilt auch unsere Gegenwart mit Tschechows Menschen. Mit dem Ende des Industriezeitalters zerfällt, was man unter dem Begriff der Gesellschaft verstand. Sie erscheint nur noch als einen Addition größerer und kleinerer Gruppen, die sich voneinander abgrenzen. Das Bindemittel Arbeit, das der Gesellschaft Kohärenz verlieh, ist verloren. Tschechows Menschen, auch wenn sie sich gelegentlich anders äußerten, war sie zumeist ein Greuel. Die Feststellung des Studenten Trofimov, daß die bessere Zukunft der Menschheit durch Arbeit entstehen werde, kommentiert Caev lakonisch: „Sterben mußt du trotzdem.” - Keine Zukunft also. Dieser Kulturpessimismus, allem Neuen abhold, ist Folge einer Lähmung des