Bitef

Denkens, das sich keine Mühe macht, den gegenwärtigen Zustand zu befragen. Diese Lähmung hat alle Menschen in Tschechows Kirschgarten unabhängig vom sozialen Stand befallen, infektiös frißt sie sich ihrer Umgebung fort, so daß der alte Diener Firs die Aufhebung der Leibeigenschaft als Unglück vermeldet. Freilich ist die Rebellion der Unfreien gegen die Freiheit nicht ohne Komik, doch in dem Wirrwarr der gesellschaftlichen Beziehungen fehlt ihr jede Kraft, einen Ausweg zu eröffnen. Solange des Dieners Traum allein in der umsichtigen Behütung der Herren besteht, steht alle Dialektik von Herr und Knecht still. Ihr Grab ist die Faulheit: gesellschaftlich anerkannte freie Zeit, die auch heute so fern von Freiheit ist, die man unter dem Dach einer gewaltigen Freizeitindustrie tötet. Wer so lebt, muß unterhalten werden. Durch Gespräche, Zauberkunststückchen, durch Feste. Alles, was ans reale Geschehen erinnert, ist degoutant. Neugier gibt es nicht, da Neues nicht sein wired. Darum sind auch die Kinder der Gutsbesitzer, das eigene und das in Pflege genommene, eingesperrt in den Schraubstock einer Zeit, die vor vielen Jahren gewaltsam angehalten wurde. Kinder waren sie nur dem Alter nach, an Kindlichkeit konnten sie die Alten nie übertreffen. Wenn Caev nach der Ankunft seiner Schwester über Anja äußert: „Ljuba, genauso hast du in ihrem Alter ausgesehen”, sieht man einzig die alternde Mutter in dem Kind, nie aber das Kind in der alternden Mutter. Die Abschaffung der Kinder ist für eine an der Zukunft desinteressierten Gesellschaft notwendig, denn sie künden beständig vom eigenen irdischen Ende. Die das Sterben so verleugnen, bemerken meist nicht, daß sie lange schon tot sind und sie klammern sich an die Dinge, deren Vergehen von anderer Art ist. Die Beziehungen zu den Dingen wird inniger als zu den Menschen. Im Zirkus kämpft der Clown mit jenem Eigensinn der Dinge, der Stuhl, vormals nützlich, läßt sich nicht mehr zum Sitzen benutzen, da das Klavier zu weit entfernt steht. So muß er dann das schwere Klavier zum Stuhl schieben. Am Ende ist die Erschöpfung so groß, daß man das Klavier nicht mehr spielen kann. Die regressive Beziehung zu den Dingen stattet sie mit Leben aus und natürlich mit dem der Kindheit. Daß deren Beschwörung erschöpft, macht Tschechows Menschen den Clowns ähnlich, die sich nach der

Vorstellung die Masken abnehmen und der Welt keinen Widerstand, mehr leisten. Als Clown im Zirkusrund will er sich nicht damit abfinden, im möglichen Plan des Daseins keine Rolle zu spielen. Darum kämpft er mit ihm und wird komisch durch den Triumph der Niederlage. Doch die Freude dieses Triumphes fällt wie ein dunkler Schatten außerhalb der Arena auf ihn zurück. Er kann sich seiner privaten Nichtigkeit nach diesem Titanenkampf nicht entziehen, er wird melancholisch. Tschechows Menschen sind schon vor diesem Kampf erschöpft und verlieben sich in diese Melancholie der eigenen Nichtigkeit. Das enthebt sie der Arbeit, das Klavier zum Stuhl zu schieben und die Lebenszeitalter in die bewußte Gegenwart, so daß der Kirschgarten nicht in die Zukunft zu retten ist. Und das Personal hat sich so sehr den Herren angeglichen, daß von ihn keine Hilfe zu erwarten ist. Hilfe wird auch nicht gefordert: den Herren, die ohnehin für den Erhalt des Gartens wohl seit Jahrzehnten nichts unternommen haben, fällt der Abschied nicht schwer. Caev: Wirlicht, jetzt ist alles gut, vor dem Verkauf des Kirschgartens haben wir uns aufgeregt, haben gelitten, aber dann, als die Frage endgültig entschieden war, unwiderruflich, beruhigten wir uns alle und lebten sogar ein wenig auf... Ich bin Bankbeamter, ich gehöre jetzt zu den Financiers... den Gelben in die Mitte, und du, Ljuba, siehst auch besser aus, das steht fest. Ljuba: Ja. Meine Nerven sind besser, das stimmt. Man reicht ihr Hut und Mantel Ich schlafe gut. Tragen Sie meine Sachen hinaus, Jascha. Es wird Zeit. Zu Anja: Mein kleines Mädchen, wir sehen uns bald wieder... Ich fahre nach Paris, ich werde dort von dem Geld leben, das deine Großtante aus Jaroslawl zum Kauf des Gutes geschickt hat - es lebe die Großtante! Aber lange wird das Geld nicht reichen. Es war ohnehin nicht für sie bestimmt.