Bitef

In den Jahren nach 2000 hat sich Jürgen Gosch noch einmal neu erfunden (oder viel leicht auch: gefunden) - und das, obwohl er seinem Stil grundsätzlich treu geblieben ist: seiner Textgenauigkeit, seiner szenischen Konzentrationsarbeit, seiner Schauspieler-Liebe. Noch immer sind Goschs Inszenierungen nackt, realistisch, pur. Und oftmals auch anstrengend. Doch wirken sie jetzt wie beschleunigt und befreit. Sie entstehen aus einer großen Lust an der Improvisation und atmen eine Authentizität, die in unseren heillos überinszenierten Zeiten erhellend frisch und sinnstiftend ist. Die Leichtigkeit, mit der er im Januar 2004 am Schauspielhaus Düsseldorf Gorkis Sommergäste von allem Staub und klassenkämpferischen Pathos befreite, war von schlagender Überzeugungskraft.„Selten ist auf dem Theater so viel über Menschen zu erfahren gewesen", schrieb Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Dicht komponiert und voller Brüche, gewinnt die Inszenierung soziale Genauigkeit und eine virtuose Wirklichkeitsnähe". Die Inszenierung wurde 2004 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, ebenso wie ein Jahr später Goschs fulminante Zuspitzung von Edward Albees Eheschlachtdrama Wer hat Angst vor Virginia Woolf? mit Corinna Harfouch und Ulrich Matthes am Deutschen Theater Berlin: Das war nervenaufreibendes Schauspieier-Hyänen-Theater ohne allen Plüsch und Plunder, jedes Wort ein Treffer - ein Endkrieg im trostlos leeren Ehebunker, Im Oktober 2005 wagte sich Gosch noch einmal an Shakespeares Macbeth, diesmal am Schauspielhaus Düsseldorf, Die radikale Inszenierung, deren körperliche Krassheiten bei der Premiere etliche Zuschauer vertrieb, wurde zum Theaterereignis der Saison 2005/06, diente einigen kulturkonservativen Debattenführern aber auch als Beispiel für das von ihnen inkriminierte deutsche „Ekeltheater". Gosch inszenierte Shakespeares blutrünstige Tragödie als Sudelbad im Schlammgrund der Menschheit: nur Männer auf der Bühne, sieben großartige Schauspieler (darunter Thomas Dannemann, Devid Striesow, Ernst Stötzner), fast alle immerzu nackt, sich suhlend in einer Theaterpampe aus Blut und Exkrementen, dabei sämtliche theatralischen Mittel stets deutlich ausstellend;Theater pur - ein totales Spiel, so komisch wie aufwühlend. Es war eine Inszenierung, die wie keine andere den Urtrieb und die Elementarkraft des Theaters feierte und damit Goschs Comeback als Regisseur der Stunde endgültig besiegelte. Macbeth eröffnete das Berliner Theatertreffen 2006, bei dem Gosch auch noch mit Tschechows Drei Schwestern vertreten war, einer Inszenierung aus Hannover, in der er dieses Drama der Vergeblichkeit und der sehnsuchtsvollen Ausbrüche ganz nah und wahr, ganz alltäglich und banal an unser Leben heranholte. Goschs Theater folgt keinen ästhetischen Konventionen, es lebt von der Schlichtheit und Intensität-auch von der Offenlegung - der Mittel. Es mutet den Zuschauern Pausen, Längen, Brüche, Momente der Verzweiflung, der Ratlosigkeit und der Unordnung zu. Das Sallicht bleibt in Goschs Inszenierungen fast immer an. Alle Schauspieler sind stets zugegen; oft setzten sie sich, wenn sie nichts zu spielen haben, in die erste Reihe. Die Bühnenbilder, die Johannes Schütz für Gosch entwirft, sind karge, geschlossene Kästen, aus denen es kein Entrinnen und in denen es keine Kuschelecken für alte Sehgewohnheiten gibt. Nicht nur den großen Klassikern, auch denzeitgenössischenTexten von Jon Fosse, Yasmina Reza und Roland Schimmelpfennig gewinnt Gosch auf diese Weise existenzielle Deutungen ab: in einem Theater der Authentizität.

Christine Dössel