Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 6, page 281
Allgemeines. 241
Erſte Drdnung. Die Seeſheiden oder Sacktiere (Ascidiae).
Die Ascidien ſind diejenigen Manteltiere, welche nur eine kurze Zeit als geſ<hwänzte Larven einen freien Shwärmzuſtand durhmachen, dann aber für immer an den verſchiedenſten untermeeriſhen Gegenſtänden ſih feſtſeßen. Man macht ſi<h am zwe>mäßigſten, wie wir es ſchon begonnen haben, mit den als Einzelindividuen lebenden größeren, bis über fauſtgroß werdenden Formen bekannt, welche in allen Meeren in den verſchiedenſten Tiefen zu den gemeineren Erſcheinungen gehören, und deren gröbere anatomiſche Unterſuchung uns hinreichend orientiert. Man nennt ſie einfache Ascidien im Gegenſatze zu den anderen Abteilungen mit Sto>bildung. Wenden wir unſere Bli>ke nohmals auf die ſhon vorſtehend gegebene Abbildung der geöffneten A scidia microcosmus, ſo erſcheint es ohne weiteres als annehmbar, daß der dide Außenmantel niht etwa den Mantelblättern der Brachiopoden oder Muſcheln entſpricht, ſondern höchſtens mit dem zweiklappigen Gehäuſe verglichen werden kann. Nachdem einige bedeutende engliſhe Zoologen, wie Hanco> und Huxley, aus verſchiedenen Gründen eine innigere Verwandtſchaft der Ascidien mit den Brachiopoden erkannt zu haben glaubten, entde>te Lacaze-Duthiers an der afrikaniſchen Küſte eine Cheyreulius genannte Ascidiengattung, deren äußerer Mantel genau einer jener altmodiſhen Schnupftabaksdoſen gleicht, an welche auh die Brachiopoden-Gattung Thecidium erinnert. Cheyrenulius iſt in Bezug auf dieſes Gebäude, welches in Geſtalt einer zweiklappigen Schale ganz offenbar dem Außenmantel der übrigen Ascidien entſpricht, dem im Darwinſchen Sinne vergleichenden Zoologen eine willkommene Zwiſchenform, deren Erwähnung gewiß auch hier gerehtfertigt iſt. Die eine Öffnung (a), welche bei unſerer Ascidia microcosmus an dem einen Ende des der Länge nach feſtgewachſenen Tieres ſi befindet, bei den mehr kegel- und ſäulenförmigen Arten aber auf dem Gipfel, führt niht unmittelbar in den Mund, ſondern in eine weite Kiemenhöhle. Jm Grunde derſelben iſt der Mund, zu welchem die Nahrung dur< Flimmerung gebracht wird. Unter der zweiten Öffnung (b) entleert ſi< der Darmkanal in eine kurze Röhre, dur<h welche auch die Fortpflanzungsprodukte entleert werden. Die Ascidien ſind wahre Zwitter, und ihre embryonale Entwi>kelung hat durch die vor Jahren veröffentlihten Unterſuchungen des ruſſiſhen Zoologen Kowalewsky eine unſer höchſtes Fntereſſe beanſpruhende Wichtigkeit erlangt. Er hat nämlih nachgewieſen, daß an den, wie ih {hon oben ſagte, mit einem Ruderſhwanz verſehenen Larven der Ascidien vorübergehend ein Organ ſich bildet, welches ſih nicht anders verhält als ein Teil des Wirbeltierkörpers, der bisher für das aus\<ließlihe und daher eigentlih carakteriſtiſhe Eigentum der großen Abteilung angeſehen wurde, der auh der Menſch ſeiner Leiblichkeit und Abſtammung nach angehört. Dies iſt die ſogenannte Rückenſaite. Wenn bis dahin alle Anknüpfungspunkte fehlten, um den Stammbaum der Wirbeltiere und damit unſeren eignen mit der niedrigeren Tierwelt in faftiſhe Berührung zu bringen, ſo iſt Kowalewskys Deutung ein Rieſenſchrilt vorwärts, eine von jenen erwünſchten und immer ſi einſtellenden Beſtätigungen, wenn es ſih um die Erhärtung großer neuer wiſſenſchaftlicher Hypotheſen, wie auh der Darwinſchen, handelt. Wir wollen jedo< niht verſhweigen, daß 1874 der Würzburger Zoolog Semper die Vermutung ausgeſprochen hat, es zeigten die Ringelwürmer noh nähere Beziehungen zu den Wirbeltieren als die Ascidien. Es handelt ſi< dabei um das Vorfommen gewiſſer Organanlagen in den Nieren der Haifiſhe, welche den ſogenannten Segmentalorganen oder Schleifenkanälen der Würmer gleich ſein ſollen, ſowie um die
Brehm, Tierleben. 3. Auflage. X. 16