Der Künstler zwischen Westen und Osten

210 Moderne Lyrik

Er ging, wie Arno Holz, von jenem Freiheitsgefühl aus, das im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Dichter Deutschlands erfaßte. In allen, bedeutenden und unbedeutenden, erwachte es, aber in völlig verschiedener Weise. Bald überwog es im Verstand (wie bei Holz), baldim Gemüt (wie bei Flaischlen), bald in der Leidenschaft (wie bei Dehmel, dem größten unter diesen). Es war ein erhebendes Schauspiel, denn man konnte glauben, daß alle diese Geister einen himmelstürmenden Flug unternehmen würden. Sie stürzten ab und versanken.

Morgenstern allein erreichte das Ziel. Bei ihm, der physisch lungenkrank war, wurde der seelisch-geistig „atmende‘ Mensch erfaßt.

Auch er erhob sich in den Kosmos. Aber nicht nur mit dem Intellekt wie Arno Holz, der Verfasser des „Phantasus“, sondern mit dem Herzen, das sich in den Höhen eine Burg erbaut. Und er vermochte sich in „Phantas Schloß“ (so nannte er sein Jugendwerk) zu halten, weil er sich vom Mythos tragen ließ. Nebelreiter führten ihn. Wolkenjungfrauen empfingen ihn.

Aber zu den Sternen gelangte er hier noch nicht. Wenn wir die Gedichte dieser Periode mit denen vergleichen, die er in dem Buch ‚Wir fanden einen Pfad“ hinterlassen hat, so erscheinen uns die Vokale blaß und die Konsonanten verwischt. Die freien Rhythmen heben ihn nicht über die Region der Wolken hinaus. Er löst sich in der Bläue der Atmosphäre auf. Den Lauten seiner letzten Gedichte aber ist eine Musik eigen, die etwas