Der Künstler zwischen Westen und Osten

Moderne Lyrik 209

Rilke wie George knien nicht als kirchliche, sondern als künstlerische Menschen. Ihre Gebärde ist so aufzufassen wie die eines händefaltenden Stifters, der sich auf einem Altargemälde mit abbilden läßt.

Der religiösen Not der Allgemeinheit stehen beide ferne.

Zwischen George und Rilke steht ein Dichter, der sowohl das starke Selbstgefühl des ersten als auch die große Liebeshingabe des anderen als eine Lebensnotwendigkeit eingesehen hat: Christian Morgenstern. Er übte beides aus Freiheit.

Was ihn unter und über jene stellt, ist, daß er sich der materialistischen Flut nicht durch Flucht entzogen hat. Er tauchte unter und stieg als ein Getaufter empor.

Morgenstern wurzelt in der älteren Generation, aber er wuchs hinüber bis in die jüngste. Als Schüler Nietzsches errang er sich ein sieghaftes Ich-Bewußtsein. Als Schüler Dostojewskis ein demütiges Mitleid für die Menschheit. Als naturwissenschaftlicher Beobachter schärfte er seinen Intellekt, als Mystiker verinnerlichte er sein Herz.

Die ältere Generation scheint nicht darüber nachzudenken, warum dieser Dichter solche bis zum äußersten getriebenen Gegensätze, wie schonungslosen Spott und erbarmende Hingabe, frostige Skepsis und inbrünstige Mystik, in sich vereinigen konnte, warum er nicht von ihnen zerrissen wurde, warum er über sie hinauszuwachsen vermochte.

Antwort (für unsere harthörige Zeit): Weil er sich der geisteswissenschaftlichen Lebensschulung hingab.

14 St. K.