Die Physiognomie des Menschen

— wohnt heute wie eh eine kleine Schar bescheidener Naturfreunde. Sie kann nicht mittun auf dem Markte der Wissenschaft. Sammeln, Schauen, sinnendes Verweilen ist ihre Freude. In keinem Zeitalter ging diese ewige Naturforschung je verloren. Man kann sie die symbolische nennen im Gegensatz zur analytischen. Zuweilen freilich, am verhängnisvollsten zur Zeit der Schule Schellings, drohte wohl die dem ästhetischen Schauen verwandte Forschung auszuschweifen in spekulative Fantastik, aber zumal unter den denkenden Anatomen fanden sich stets nüchterne besonnene, darum aber nicht gefühlstote Augenmenschen, welche, statt nur zu zergliedern, die Gebilde als Ganzheiten erfaßten. Schöne Werke, wie die Plastische Anatomie von Siegfried Mollier oder der Grundriß der wissenschaftlichen Anatomie von Wilhelm Lubosch, bezeugen, daß auch heute noch unter den Anatomen der philosophische Eros lebt. Wir würden freilich irren, wenn wir unsere Gestaltenkunde als eine eigene Disziplin des Naturwissens neben andere Wissenschaften gestellt sehen wollten. Nein! Es handelt sich nicht um eine Wissenschaft unter Wissenschaften, sondern um eine andere Methode und Einstellung zur Natur. Um jene selbstlose Betrachtung, welche nicht die Erscheinungen nach Zielen und Ursachen befragt und fragend übermächtigt, sondern sich schauend dahingibt an ihr Sein und nur dem Wesen nachtrachtend, das unmittelbar den Sinnen Gegenwärtige zu schildern unternimmt. Ein solches Verfahren scheut nicht zu bekennen: Wir trachten nicht in Tiefen, wir halten uns an die Oberfläche. Wir wissen, daß es kein anderes Weltwesen gibt als einzig das uns durch die Sinne offenbare.

Die vorliegende Sammlung von Quellenschriften zur Gestaltenkunde stellt sich die Aufgabe, in einem Zeitalter wissenschaftlicher Barbarei die zarten Keime zeitloser Naturanschauung zu be-

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