Die Physiognomie des Menschen

Damit hatte man eine vorläufige Lösung des Rätsels, indem man den Widerspruch aus der Natur hinwegräumte und in das Denken von der Natur hineinshob. Die wirkliche Lösung aber brachte erst das Auffinden des Quellpunktes für jenes dialektische Gegensatzpaar: Hie ausgedehnte Außenwelt — Hie denkend-seelische Innenwelt.

Dieser antithetische Betrug nämlich entstieg nur dem Ausgangsort: Bewußtsein. Erst vom Bewußtsein aus spaltet sich das Gegebene in Erlebnis und Denknis. Hüben bleibt die denkende Lebendigkeit, drüben aber erschließt sich eine immer abstrakter verfestigte Dingwelt. Und wäre Bewußtsein „das Erste und Letzte“, dann freilich wäre Dualismus unser unvermeidliches Los. Denn Bewußtsein bedeutet: Intentional Gerichtetsein auf ein konstantes Etwas. Und diese Linearität der Spannung, dieser Weg auf das Ding zu wird beschritten, sobald das Subjekt wacht. Denn wachen heißt: denken und wollen. Nicht immer aber denken oder wollen die Geschöpfe. Nicht im Tiefschlaf, nicht in Versenkung und Versunkenheit, nicht in Hingegebenheit und Intuition, nicht im ästhetischen, musischen, religiösen Zustand. Und sobald die Psychologie auch diese Zustände jenseit von Wollen und Denken, also jenseit der linearen (zeitlichen und kausalen) ‚Gerichtetheit‘ zu untersuchen unternahm, da stieß sie auch schon auf den Boden des alten Abgrunds.

Man beruhigte sich nun zunächst bei vielerlei halben und vermittelnden Theorien. Man lehrte: Es gäbe Vermittlungsvorgänge zwischen Subjekt und Objekt, Vorgänge des Verschmelzens, der Sympathie und der Einfühlung, welche der subjektiven und der objektiven Seite zugleich zugehören und den Abgrund überbrücken. Als Brücke zum Wissen von fremden Ichen (so lehrte man) dienen die ‚Ausdrucksbewegungen des Leibes‘. Das Hineinfühlen der eigenen Lebenszustände auch in die anorganische Welt der toten Formen

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