Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

kann; ähnlich wie in den abendländischen, streng’auf Ehre und Ehrgefühl haltenden Soldaten- und Adelskreisen ein die Kaste entehrendes Mitglied zum Abschied oder in äußersten Fällen zur Selbstentleibung gezwungen wird. Dies ist Vorwegnahme einer Rechtsstuie, auf welcher das eigene Gewissen des Übeltäters ihm das Urteil spricht. — Das Harakiri ist dazu das notwendige Gegenstück: die Nothilfe, die ein Wehrloser, der von einem nach Rang oder Ansehn überlegenem Manne verunrechtet wurde, besitzt, um seine Ohnmacht zu rächen. Tötet er sich selbst und gibt bekannt, daß die erlittene Ehrenkränkung — etwa ein Schlag, eine Schändung seiner Mannesehre, eine öffentliche Verunglimpiung — ihn in den Tod trieb, so fällt auf den Beleidiger unsühnbare, ihn an seinem Wohnsitz unmöglich machende Schmach.

Als ein weiteres Beispiel hoher Verfeinerung nenne ich die im Volke lebendige Annahme des Ikyryo (Gedankengeistes). Böse wie freundliche Gedanken, die der Eine auf den anderen richtet, gelten als lebenfördernde oder lähmende Kräfte. Ist es also z. B. im Volke bekannt, daß iemand Rache, Neid, Mißsunst, Eifersucht gegen einen anderen hegt, und widerfährt nun dem so mit Gedanken Bedachtem ein Unglück, so wird, falls das Volk die gehässigen Gefühle nicht als berechtigt einzusehen vermag, (was besonders bei Eifersuchtsgefühlen oft der Fall ist), der Hassende für das Schicksal des Gehaßten verantwortlich gemacht und gezwungen, seine Wohngegend zu verlassen. Die Gnadengöttin Kwannon wird in Japan oft mit hundert und mehr Armen abgebildet, um die Unbegrenztheit des Wohltätigkeitsgebotes zu kennzeichnen. —

Wo im Abendlande wäre vollends je eine Erscheinung möglich wie das Yuzura? ein Verzichten auf Ämter oder Ehren zu gunsten eines anderen! Daß ein berühmter Mann eine ihm bestimmte Ehre ausschlägt, wenn ihm im Vaterlande ein würdigerer bekannt ist, welchen minder geehrt zu sehen, für ihn beschämend wäre, das gilt in Japan als eine der vornehmsten Tugenden.

Endlich ‚sei hingewiesen auf die wundervolle Gebundenheit aller Lebensausdrücke, welcher nichts ferner liegt als das im Abendland bald als individualistisch, bald als expressionistisch, bald als ‚Leben‘ bald als ‚Temperament‘ schöngelogene Sichgehen- und Sich-Strömenlassen, ohne Rücksicht und ohne Zucht. Auch der bitterste Schmerz wird.einen Japaner nicht dahin-