Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

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menschlichen Eros abgeschnitten worden ist. Die zweigeschlechtliche wie die gleichgeschlechtliche Liebe, die Begeisterungen der Kunst, der religiöse Überschwang, die Freude an der Landschaft, das Glück an Kindern, alles dieses sind verschiedene, aber gleich beglückende gleich heilige Spielarten “des Eros. Niemals ist von Natur aus irgend ein Trieb besser oder höher als ein anderer. Es gibt keine guten und keine schlimmen Leidenschaften. Sondern erst unter dem Gesichtspunkt normativen Wertes kann ieder Trieb bald erhaben, bald verwerilich sein.

Es stellt der Reinheit und Klarheit des Abendlandes kein gutes Zeugnis aus, daß seine Denker, zum Beispiel in Form einer ebenso wohlfeilen als wichtigtuerischen Wissenschaft der sogenannten Psychoanalyse reden von einer ‚Verdrängung‘, ‚Verdeckung‘, ‚Auferhöhung‘ (Sublimation) der Leidenschaften, srade als ob zZ. B. die Erlebnisse der Religion oder die des Kunstschönen aus dem Geschlechtlichem entstehen könnten. Die unnatürliche und schiefe Einstellung Europas wird an solchen Lehren der Philosophie und Psychologie sichtbar klar. Im kindlichen Japan bleibt das Geschlechtliche stets der Freude am Spiel wie an der Mitteilung, dem Schönheits- wie dem Güteglück eng verbunden. —

Daß das ganz scheinheilise Jungiräulichkeitsideal des Abendlandes unbekannt ist, sogar eine lange Laufbahn der Frau als Geisha (Freudenmädchen) manchmal nicht hindert, daß sie in die vornehmsten Familien des Landes einheiratet, daß diese ganze im Abendland grundverlogene, teils verbürgerte teils verluderte Seite des Lebens unbefangen im hellem Tageslicht sich abspielt (‚vivre au grand jour‘), weil auch Lasten und Laster der Menschen nur im Lichte ausheilen, das ist nicht der kleinste Vorzug japanischer Sittlichkeit. —

Als zwei weitere Beispiele überlegener Sitte nenne ich das Seppuku und Harakiri des alten Japan. :

Beide Einrichtungen machen den Selbstmord (ioshid) zur sittlichen Handlung, wie denn überhaupt dem Asiaten die volle Verfügung über das eigene Leben für selbstverständlich gilt, da man das ‚Ich‘ nicht so wichtig nimmt, überhaupt sein eigenes Leben, freilich auch das Leben anderer, leichter als in Europa preisgibt. Das Seppuku nun ist die Einrichtung, daß ein Adeliger (Samurai) zwar nicht getötet, wohl aber zum freien Tode zur Sühne einer Beleidigung des Sittengesetzes gezwungen werden