Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

wieder haben, die Bedingungen zum een einer neuen, der Not entborenen Weltreligion. .

Ich begriit das Wesen der abendländischen Frömmigkeit zuerst, als ich ein iunges Kalb zur Schlachtbank getrieben werden sah. Ich habe dies Erlebniß in meinem Jugendwerk ‚Schopenhauer, Wagner, Nietzsche‘ erzählt (S.471 f). Vor dem Tore des Schlachtraumes blieb das Tier stehen. Keine Gewalt konnte es voran bringen. Plötzlich aber, als ob es seiner Ohnmacht bewußt geworden, sich freiwillig dem Schicksal unterstelle, stieß es einen Schrei aus, neigte das Haupt und ging freiwillig über die blutige Schwelle. ... Immer kommt der Augenblick, wo der verzweifelt kämpiende Kletterer freiwillig die Felswand losläßt; wo der aussichtslos Verirrte freiwillig sich zu letztem Schlaf in den Schnee legt, wo der gehetzte Hirsch mit brennenden Flanken, freiwillig der hetzenden Meute sich preisgibt, wo der hoimunglos Liebende, nicht mehr weiter kämpfend, sein Schicksal in die Hände derer legt, die gewillt sind, sein Leben zu überrädern. Dies nennt man Frommsein!

-.. Daß nun aber alle dieser scheinbare Wille zum Leiden in Wahrheit in sich birgt die Forderung des Stolzes und der Würde, welcher dort, wo man nicht gegen das Schicksal ankämpfen kann, dieses Schicksal selber zum Inhalt des eigenen Willens macht, — das beweist die Geschichte des Christentums. Die Natur kennt keinen Willen zum Unschöpferischen. Einen solchen Willen zu behaupten ist widersinnig. Wo eine Lebensverneinung vorzuliegenscheint (wie bei Buddha oder Christus), da handelt es sich ausnahmslos um den Umweg und Notausgang, den die Selbstliebe und das Selbstgefühl (l’amour de soi, als Gegensatz der l’amour propre) einzuschlagen gezwungen ist. Von diesem Punkte aus müssen wir die weltgeschichtliche Erscheinung des Christentums begreiien.

Ich will zunächst aus Überfüllen von Erfahrungstatsachen zwei zum Nachdenken anregende Beispiele anführen (indem ich im übrigen den Leser verweise auf die in meinem Buche ‚Der fröhliche Eselsquell‘ enthaltene Abhandlung: ‚Der süße Schmerz. Eine Ästetik der Tragödie‘). Das erste Beispiel entnehme ich einer alten Sammlung des Pitaval (herausgegeben von I. E. Hitzig und W. Häring 6ter Teil 1844): die Geschichte ‚eines Matheo von Pisale, eines fanatisch irommen Knaben, der, 14 Jahre alt, sich selbst kastriert und die Geschlechtsteile aus dem Fenster auf die Straße wirit und drei Jahre später es