Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

fertig bringt, in Venedig, sich selbst mit Füssen und Händen Ban an ein Holzkreuz festzunageln und sodann durch langwierige

Vorrichtungen sich, ans Kreuz geschlagen, aus dem Fenster

heraushängen zu lassen. Er wurde gerettet und in ein Irrenhaus -

gebracht, blieb aber bis zu seinem Tode besessen von diesem Hange zur Selbstmarterung. — Ich erlebte einen ähnlichen mir unvergeßlichen Fall in einer gynäkologischen Klinik an einer Frau, die immer neu zur Öffnung der Bauchhöhle drängte, bis

endlich festgestellt war, daß sie besessen war von einer 1

Operationsmanie, aber keinerlei örtliches Leiden hatte. Die äußerst plumpe medizinische Psychologie, welche alles und jedes aus Geschlechtlichem erklärt, deutete den Fall mit irgend

einem Fremdwort wie Algolagnie, Masochismus u. dergl. Aber -

mir war klar, daß die Unsälige in ihrem bettelarmen inhaltleerem Leben sich erhoben fühlte, indem man mit ihr und ihrem Kranksein sich beschäftigte und daß sie die Eingriffe auf Leben und Tod aufsuchte, nur, weil der Zuspruch von Schwestern und Ärzten sie eine zeitlang sich selber wertvoller machte.

In der Legende des heiligen Sebastian wird erzählt, daß ein römischer Legat in eine Christensiedelung kommt, um zu verfügen, daß die Christen ihre besten Schätze auf einen Wagen sammeln und vor seinem Hause abladen sollten. Am Morgen erscheint vor des Legaten Wohnhaus ein Wagen mit allen Krüppeln und Kranken der Stadt, und als der Römer sich wundert über diese Befolgung.seines Befehles, da erwidert die Gemeinde: ‚Dieses sind unsere besten Schätze.‘ —

Das bekannte Wort ‚credo quia absurdum‘ faßt sehr sinn-

reich zusammen eine bei Tertullian (De carne Christi 5) stehende Abhandlung über die Notwendigkeit des Widersinnes für das Christentum. — Man denke zunächst an die Symbolik der Leiden. „Gruft, Kreuz und Marterwerkzeuge“ so schreibt in seinen ‚Characteristics‘ der Cardinal Manning, „sind uns Zeichen der Freude, w eilsie Werkzeuge des Todes sind. Ich kenne keinen Christen, der nicht durch ein großes Leiden oder durch große Schuld zu uns gekommen wäre.“ Während die Synagoge durch strenge Vorschriften die Berührung mit Totem vom Heiligtume fernhielt, verlegte der Christ die Gräber in die Kirche. In den unterirdischen Grüften Roms (den Katakomben) begann der neue Kult. Das ganze Mittelalter hindurch kämpfte das Christentum um nichts als um ein leeres Grab. Alle v or christliche antike Kunst hatte zum Fauptstoff ihres Gestaltens entweder die schimmernde Schön-