Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

dem sollen auch noch die Mundwinkel zu ihrem Rechte kom-

men.

Schon beim Kuß wurde erwähnt, daß ihm, nach dem Verlust seines ersten Objekts, der Mutterbrust, der Umweg der Übertragung seines Kontakts auf andre Gegenstände eine Unlustkomponente beigegeben hat, die wir eben nun in der Schmerzstellung erkennen. Sehnsucht, Schmachten pflanzt die Saugenergie in geschwungener Welle seitlich fort, treibt sie gleichsam auf die Suche nach einem Objekt in den Angriffsrichtungen der Mundwinkel. Wenigstens in der Vorstellung erfaßt sie es dort, und je nachdem, ob sie Hoffnung, Ungewißheit oder Versagung findet, bestimmt sich die Richtung der Mundwinkel nach oben, nach der Seite oder nach unten: nach oben in Schwärmerei (Duse X, 6; Martha Esgerth X, 5; Richard Tauber XIV, 2), nach der Seite in Sehnsucht (Liszt IX, 2), nach unten in Wehmut (Ecce Homo XIII, 4,5).

Bei Unverheirateten hält sich der schmachtende Zug sehr lange (Titze-Tante XI, 7), während er sonst mit der Ehe zu vergehen pflegt (Hille Bobbe XI, 6). Man weiß ja, daß man oft einer Frau ansehen kann, ob sie verheiratet ist oder nicht; eines der verläßlichsten Erkennungszeichen ist da ein, wenn auch noch so feiner, Schimmer des schmachtenden Zugs als Merkmal der noch erwarteten Triebbefriedigung.

Wer nun weiß, wie dicht im Leben neben die Liebe das Leid gestellt ist und bedenkt, welch außerordentliche Rolle die Liebe im Leben zumal des Weibes spielt, der wird den Anteil begreifen, den der schmachtende Zug an der Formung der weiblichen Maske errungen hat; einen so bedeutenden, daß dieser Zug wie alle anderen der Kontakthemmung sein negatives Vorzeichen in ein positives verwandelt und nun als Reiz und Würze dient, um gerade die Übersättigung zu verhüten und das Ziel, immer wieder erreichbar, doch immer

' wieder in geheimnisvolle Ferne zu rücken (Garbo in ‚Wilde

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