Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Orchideen’ X, 1). Der Reizwert des schmachtenden Zuges erhellt ja gerade aus der Gegenüberstellung der Physiognomien von Frau und Mädchen. Im Geniefall der weiblichen Maske allerdings ist der Zug unvergänglich, und vor so unzerstörbarer Jungfräulichkeit versagt natürlich der einfache Anzeichenwert des schmachtenden Zugs.

Aber, wenn auch unauffälliger, auch den männlichen, also überhaupt den menschlichen Mund hat der schmachtende Zug formen geholfen, und zwar in seiner Schweifung. Schon zu Beginn unsres Kapitels über den Mund hörten wir von der doppelten Aufwölbung der Oberlippe beim Kleinerwerden des Mundes. Die Ansatzpunkte des Eckzahnmuskels, der den sauren und schmerzlichen Zug zuwege bringt, liegen nun etwas weiter seitlich; daher wird unter seiner Einwirkung, wie wir wiederholt hörten, die Schweifung auseinandergezogen, während sie in der Kußstellung, wo der Mund sich kreisförmig spitzt, fast ganz vergeht. Unter diesem widerstreitenden Zuge nach beiden Seiten erhält erst die Schweifung beim Erwachsenen ihre endgültige, außerordentlich feingeschnittene Form und wird zum Amorbogen, von dem aus die Liebe ihre Pfeile versendet. Daran ändert es gar nichts, wenn Frauen, um aus der Babymaske Reiz zu ziehen, sich wieder ein Kindermündchen aufschminken (Baby I, 2; Anny Ondra X, 8).

Schmerzlicher Zug und Lippenschweifung betreffen beide die Oberlippe; es folgt also, daß auch die Feingestaltung durch den schmachtenden Zug hauptsächlich der Oberlippe zugute kommt. Dagegen hörten wir, wie der feinschmeckerische Zug seine Spuren mehr auf der breiten, glänzend-plastischen Unterlippe zurückließ; aber auch dort entstanden Feinformen des ästhetischen Geschmacks, wie bei Bach (VT, 4) und Lessing (VIII, 2). So verteilen sich überhaupt die Bedeutungen der Ober- und der Unterlippe: jene ist das Anzeichen vergeistigter umwegiger Erotik, diese das Aushäng-

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