Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

der Fall eintritt, daß der Mundwinkel über den Bedarf des Fletschens hinaus hochgezogen wird, entgleist gleichsam die Angriffsenergie und die Zange vergißt sich zu schließen. Und wenn auch schon beim Menschen eine gewisse Angriffstendenz im Lachen liegt, weswegen wir ja auch sagen, daß Schadenfreude die reinste Freude sei (Pastillen-Mann Fis. 12), so wird doch anderseits schon bei der rein körperlichen Erregungsart des Lachens, beim Kitzeln, eine eigentümliche Lähmung des motorischen Apparats offenkundig, der Gekitzelte kann sich nicht wehren und bricht, gleichsam zum Ersatz für den Angriff, in ein krampfhaftes Lachen aus. Sogar das Lächeln des schönen Mädchens (M. Esgerth X, 5; Magda Schneider X, 4; Zroei junge Herzen X], 3) sagt: „Sieh meine Perlenzähne, wie schön (d. h. wie gesund) sie sind! Ich könnte beißen, aber ich tue es nicht, denn ich bin ein sanftes Wesen.” So wird das Lächeln, das die Waffe im Zustand der Untätigkeit, der Harmlosigkeit zeigt, zum Ausdruck der Koketterie.

Mannigfache Rätsel läßt nun das Lachen offen. Woher die Lust des Lachens, wenn es mit einer Lähmung verbunden ist, woher die Lähmung des Angriffs, woher der Anschein der Entspannung beim Lächeln, da doch im Gegenteil der Jochbein- und der Lachmuskel sicherlich gespannter sind als bei normaler Mundhaltung, woher schließlich die Mundwinkelrichtung beim Lächeln gerade aufwärts? Wir wollen versuchen, diese- Fragen nacheinander zu beantworten.

1. Das Lachen ist in der Regel der Ausdruck einer Überraschung. Es kann oft eine sehr unangenehme Überraschung sein, ja eine, die uns zur Verzweiflung treibt; wenn wir in ein Gelächter angesichts der Hoffnungslosigkeit unsrer Lage ausbrechen, haben wir das deutlichste Beispiel für das Lachen als Handlungsersatz. Überraschung ist an sich ein Schock, und wir wissen vom aufgerissenen Auge und natürlich auch von der Schmerzeinstellung des Mundes her,

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