Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

die Oberlippe auseinander, so daß sie gar keinen negerhaften Eindruck mehr macht. Der rechte Mundwinkel steht etwas höher als der linke, es ist die schauende Seite. Sie späht noch, unterstützt von der Schnüffelstellung der Nase, und rafft sich zu einem schmerzlichen Lächeln auf. Die linke Seite ist resigniert. Weil die Verhängtheit des Auges hier auch diese Bedeutung der Resignation hat, deswegen die Verteilung auf zwei Seiten: der Zwiespalt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Daher ist der Blick, wenngleich starr, so doch nicht so leer wie der des Kollegen an der Seine... (XVI, 1). Was soll jetzt noch der Rassenausdruck des Negers? Die sinnlichen Lippen genießen, wenn irgend etwas, ihr Leid.

Ein anderes Beispiel: Entspannte Mundwinkel und Wangen sehen wir bei Walt Whitman (XIII, 1) und bei Beneke (VI, 3); sie zeigen das Fehlen aggressiver Triebe an. Bei beiden finden wir eine Zusammendrängung des Mundausdrucks in der Lippenmitte, bei Beneke bis zum süßen Zug, bei Whitman bis zur leidenschaftlichen Saugstellung und zum erotischen Zug (Schmachtstellung) der Ober-, zum genießerischen der Unterlippe, beide mit feinem Schnitt. Bei solcher Zielfestigkeit verstehen wir die Verhängtheit der Augen als verschleierten Kontakt, der sich, mit Ausnahme eben der Mundmitte, auf das ganze Ausdrucksgelände und also auch die Mundwinkel fortpflanzt. Deren Spannungslosigkeit ist also Entspannung, eine Schicht über einer tiefer zurückgenommenen Spannung, ein Plus über der Spannung, und wir begreifen das Minus bei Beneke und schließen bei ihm auf nüchterne Gutmütigkeit, bei Whitman auf überschwengliche Güte. Wir können also sogar abschätzen, wo uns eine Schicht fehlt.

Dies schärft unsren Blick für die Physiognomie Heines (VIII, ?, 8, 9); in den drei Bildern setzt sich der hängende Zug der Nase immer stärker durch, während noch auf dem

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