Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

also auf besondere Art produktiv zu einem Eigenleben ausgestaltet. Diese Ausbildung der mimischen Muskulatur als Selbstzweck macht sich nun ebenfalls als besondere Schicht kenntlich, und zwar vor allem durch eine gesteigerte Beweglichkeit der Physiognomie; bei Greta Garbo (K7D) vibriert jede Fiber des Gesichts, und bei allen Schauspielern von einigem Rollenumfang (Königin Christine, Wilde Orchideen) ist diese Beweglichkeit zu spüren (Blasel IX, 6; Wedekind VIII, 5). Es müssen nicht immer Berufsschauspieler sein, die diesen schauspielerischen Zug besitzen: der Dichterkomponist Wagner (Fig. 18), der allerdings die intimsten Beziehungen zur Bühne unterhielt, zeigt ihn ebenso wie etwa Baldwin (XIV, 5), der nur auf der politischen Bühne agiert. Außerdem werden durch die ständige Übung die mimischen Muskeln bis zur Hypertrophie gekräftigt und das reichere Spannungsrelief wird durch eine Art F elderung des Wangen- und Kinngeländes förmlich optisch sichtbar (Blasel, Baldwin).

Das letztere ist allerdings bei Männern häufiger als bei Frauen der Fall, nicht nur, weil bei diesen das Muskelrelief überhaupt verborgener ist, sondern weil sie auch normalerweise ein gutes Stück Maske tragen (vgl. den folgenden Abschnitt), daher die Bühnenkünstlerin mehr eine Steigerung der Frau an sich, der Schauspieler hingegen schon eine besondere Art von Mann darstellt.

In der Beweglichkeit und dem Muskelrelief zeigen die Gesichtspartien einen überenergischen Zug nach dieser oder jener Richtung, gleichsam ein Zuviel an Ausdruck, mehr jedenfalls, als das Individuum plausiblerweise zur Befriedigung eines normalen Ausdrucksbedürfnisses benötigt. Indem die Karikatur (Schopenhauer Fig. 24; Knopp Fig.7?, 8, 32, 33; Bählamm Fig. 40) diese Einseitigkeit oder Vieldeutigkeit übertreibt — und darin besteht einer ihrer Wesenszüge —, macht sie das Gesicht überhaupt zur Maske und den

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