Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

siognomie Whitmans einen unvergleichlich größeren Wert zu als der Visage Al Capones? Wieso steckt in ihr um so viel mehr?

Betrachten wir zunächst den Mund. Beidemal die glänzende Unterlippe, die auf Genießen deutet. Aber wie groß sind sonst die Unterschiede! Wir sprachen schon von der groben Form bei Al Capone und der feinen bei Whitman, dort ein archaischer, roher, hier ein kultivierter Ausdruckszug. Die Unterlippe Whitmans ist sicherlich, sei es im Verlauf seiner Erbgeschichte, sei es in seinem individuellen Leben durch viel Hemmung und Auswahl ausgeprägt worden, während Al Capone außer im materiellen Sinne wohl kein Kostverächter ist. — Die Oberlippe Whitmans ist, trotz des Schnurrbarts ist dies ersichtlich, von der Schmachtstellung veredelt, Al Capone hat die Lippenspitzen ganz nahe beisammen, er ist nicht sentimental.

Nun zum Blick. Bei Al Capone ist, so hörten wir, eine ursprüngliche Inkoordination der beiden Augen vorhanden. Bei Whitman ist der soziale Kontakt vollkommen hinter den Verschleierungen erkennbar, auch an der Spur des Lächelns. Die Bestimmtheit der Spannung ist also erst nachträglich weggenommen und entspricht einem Reichtum, ja einem Überfluß an Ausdruckshaltungen, nicht einem Mangel. Bei Al Capone fällt, sagten wir, die ganze Physiognomie unzentriert auseinander; bei Whitman betrifft das Vibrieren der Kleinformen nur die oberflächlichste Ausdrucksschicht bei vollkommener innerer Eindeutigkeit, etwas was wir, bei vie] stärkerer Oberflächenspannung, auch der Physiognomie Offenbachs nachsagten (VI, 5). Es sind hier also alle seelischen Schichten vorhanden, bei Al Capone hingegen nur die unterste, die Triebschicht.

Daß jedoch bloße Feinheit der Züge ohne einheitliche Unterschicht für ein positives Werturteil auch nicht ausreicht, lehrte uns das Antlitz Heines (VIII, 7, 8). Wie Al

256