Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten
31. Januar 1876 Mittag vom Grafen Zichy dem Miniſter des Aeußeren, Raſchid Paſcha, erſt vorgeleſen, dann übergeben. Schon am nächſten Tage hatte der Sultan die Depeſche in Händen. Bald aber auch verbreitete! ſih das Gerücht, es ſei der Padiſhah feſt entſchloſſen, das ReformProject zurü>zuweiſen. Zugleich hieß es, Sultan Abdul Aziz ſei an einem Geſchwüre erkrankt
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und er halte \ſi< für vergiftet, was zu verſchiedenen unheimlihen Deutungen Aulaß gab. Es wurde ferner eine angeknüpfte geheime Verbindung der Türken mit Montenegro aufgeſpürt und genug auffallende Thatſachen, welche darüber Beſtätigung brachten, ſeßten die Fuſurgenten in große Aufregung und Erbitterung.
Zerwürfniſſe von mehreren Heiten.
Die Sißungen der Skupſchtina waren am 2. Februar dur< ein vom Miniſterpräſidenten verleſenes fürſtlihes Decret geſchloſſen worden ; dieſelbe hatte ihre lärmende Thätigkeit eingeſtellt ; dafür ging es in Belgrad um ſo lebhafter und aufgeregter hinter den Couliſſen zu.
Mit dem Miniſterium Kaljewitſ< ging es ſhon ſeit einigen Tagen ſtark abwärts ; die Miniſterkriſe war die Parole des Tages, ohne daß das Cabinet ſeine Abdankung gegeben oder der Fürſt die Abſicht geäußert hätte, ſeine Miniſter zu we<ſeln. Es gewann den Anſchein, daß der Fürſt nahe daran war, der Preſſion der Krieg8partei zu. erliegen. Fn der Umgebung des Fürſten liefen Aeußerungen desſelben um, welche nur zu beſtimmt auf die Möglichkeit hindeuteten, daß er, wennglei<h im höchſten Grade widerwillig, ſo doh mit der Reſignation der Verzweiflung, dem heftigen Andringen der Kriegspartei nahzugeben entſchloſſen war. Man vermuthete allgemein, daß dieſer ſehr geſpannten Sachlage die Bildung eines neuen Cabinetes entſprehen würde. Die Berufung Fovan Riſtics? an die Spitze der Regierung wurde zumeiſt als unausweihli< betrachtet. So wenig Neigung der Fürſt auh für Riſtics haben mochte, mußte derſelbe doh der Nothwendigkeit, mit dieſem Manne abermals wirthſchaften zu müſſen, um ſo eher Rechnung tragen, je wahrſcheinliher es war, daß er ſih mit deſſen Hilfe wahrſcheinli<h no< am eheſten dem Dru>e der ſerbiſhen „Chauviniſten“ (kriegeriſhen Leichtgläubigen) entwinden konnte.
Es dürfte bei dieſer Gelegenheit intereſſant ſein, das beſonders ſeit jener Zeit vielgenannte Wort, dem man alle Augenbli>e begegnet, zu erklären. Das Wort Chauvinis8mus und Chauviniſt bezeihnete in erſter Linie die eigenthümliche franzöſiſche Rheinländergier und kri egeriſhe Ueberſpanntheit. Nach den Einen wird der Ausdru> von König Charles le Chauve, Karl dem Kahlen, hergeleitet, weil die Staatsſchrift der Reunions- (Wiedervereinigungs-) Kammern, dur< welche König Ludwig XIV. die Wegnahme von Met, Toul und Verdun recht-
Zimmermann, Geſch. des orient. Krieges.
fertigen ließ, die Anſprüche Ludwig's XIV. von Karl dem Kahlen herleitete. Somit war damals Chauvinisme das ungere<hte Verlangen nah deutſchem Lande. Fndeſſen. wäre die zweite Erklärung eine viel wahrſcheinlihere, welche das Wort von dem Oberſtlieutenant Chauvin ableitet, der 1814 bei der franzöſiſhen Loire-Armee ſtand und in zahlreihen Zeitungs8artifeln gegen jeden Frieden proteſtirte, der Frankreich niht die Rheingrenze laſſe. Seitdem haben mehrere Schriftſteller, welche eine ähnliche Politik verfolgten, ihre Artikel mit dem Namen Chauvin unterzeichnet, bis man endlich dieſe ganze Art Chauvinismus nannte. Nun iſt es allerdings richtig, daß es Soldaten gab, die unter dem Namen Chauvin nah der im Jahre 1815 erfolgten Auflöſung der Loire-Armee ſih dadur< bemerkbar machten, daß ſie für Alles, was auf Napoleon LT. Bezug hatte, eine grenzenloſe Bewunderung und kindiſche Leichtgläubigkeit an den Tag legten, aber re<t volfsthümli<h wurde die Geſtalt des „Chauvin“ (eine Art franzÿſiſcher Kutſchke) er dur< das Scrib e’ſche Stü> „Le soldat laboureur“ (der militäriſche At>ersmann), deſſen komiſher Held Chauvin mit jener unſchuldigen Schwärmerei ausgeſtattet iſt. Die geiſtreichen Lithographien Cha rlet’s machten die Figur noh volksthümlicher, indeſſen hatten die Worte Chauvinismus und Chauviniſt früher keine hochpolitiſhe Bedeutung gehabt, dieſe gewannen ſie erſt im lebten deutſh-franzöſiſhen Kriege.
Dem Fürſten Milan drohte eine neue Fährlihkeit, die er ebenfalls nur dur< den Miniſter Riſtics in Schah halten konnte — der immer gefährlicher werdende Kronprätendent Peter Karageorgewitſ<. Bisher hatte man ſih nicht viel um ſein Treiben gekümmert; wenn es auh ſeine Richtigkeit hatte, daß der Präteudent und ſeine von dem berühmten Czerny Georg abſtammende Dynaſtie bisher nur ſpärlihen Anhang im Lande hatten, ſo gewann doch unter den obwaltenden ſ{<wierigen Verhältniſſen, namentli<h denen, in welchen ſi< Fürſt Milan dem kriegle<zenden Treiben der Belgrader Ueberſpannten
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