Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

230 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; erſte Familie: Falkenvögel.

Aus eigner Beobachtung kenne ih nur einen einzigen Vogel, der mit Erfolg auf ihn ſtößt und ihn unweigerlich aus ſeinem Gebiete vertreibt: die Shmaroßermöwe. Dieſem äußerſt gewandten, mutigen und raubluſtigen Bewohner der Tundra flößt jeder vorüberfliegende Wanderfalke Sorge um die unmündige Brut ein, und jeder, welcher ſi von ferne bli>en läßt, wird daher augenbli>li<h aufs heftigſte angegriffen. Auf der Samojedenhalbinſel beobachtete ih mit Vergnügen ſol<he Jagd. Der Falke flog geradeswegs ſeinem offenbar ziemlih entfernten Horſte zu, als er einer Schmaroßermöwe ins Auge fiel. Sofort erhob ſich dieſe unter lautem Rufen, hatte in kürzeſter Friſt den Räuber eingeholt und beläſtigte ihn nunmehr ununterbrochen durch die heftigſten Stöße. Mit ſpielender Leichtigkeit und unnachahmlicher Gewandtheit hob ſie ſih fortwährend über den Gegner und ſtieß von oben auf ihn hinab. Der Falke verſuchte ſoviel wie thunlih auszuweichen, niht aber, den Angriffen durch andere zu begegnen, ſondern zog, augenſcheinlich ſehr beläſtigt, ſo eilig wie möglich weiter, fortwährend verfolgt von der unermüdlihen Möwe. So ging die Jagd über die Tundra hin, bis beide meinen Augen entſhwanden.

Schlägt der Wanderfalke eine Beute, ſo erdolcht oder erwürgt er ſie gewöhnlich ſhon in der Luft, ſehr ſchwere Vögel aber, die er niht fortſhleppen kann, wie Waldhühner und Wildgänſe, auf dem Boden, nachdem er ſie ſo lange gequält, bis ſie mit ihm zur Erde hinabſtürzen. Bei Verfolgung ſeiner Beute fliegt er ſo fabelhaft ſchnell, daß man alle Shäßungen der Geſchwindigkeit verliert. Man hört ein Brauſen und ſieht einen Gegenſtand durch die Luft herniederſtürzen, iſt aber nicht im ſtande, in ihm einen Falken zu erkennen. Dieſe Jäheit ſeines Angriffes iſt wohl auch die Urſache, daß er nur ſelten auf ſißende Vögel ſtößt. Er kommt in Gefahr, ſi< ſelbſt zu zerſhmettern, und man kennt wirklich Beiſpiele, daß er dur< Anſtoßen an Baumzweige beim Vorüberſchießen betäubt und ſelbſt getötet worden iſt. Pallas verſichert, daß er zuweilen, wenn ex Enten verfolgt, im Waſſer verunglüke: ſein Stoß iſt ſo mächtig, daß er tief unter die Oberfläche des Waſſers gerät und ertrinken muß. Sonſt greift er ſelten fehl, fängt überhaupt mit ſpielender Leichtigkeit. Fm Vollbewußtſein der außerordentlihen Gewandtheit, mit welcher ex fliegt, zeigt er ſich auf ſeinen Raubzügen oft außerordentlich dreiſt, nimmt dem Jäger ein im Fluge geſchoſſenes Wild vor den Augen weg, ehe es den Boden berührt, und bezahlt ſolche Unklugheit nicht ſelten mit dem Leben. Die gewonnene Beute wird dann von ihm einer freien Stelle zugetragen und hier verzehrt, bloß größere Vögel werden da angefreſſen, wo ſie getötet wurden. Vor dem Kröpfen rupft er wenigſtens eine Stelle des Leibes vom Gefieder kahl. Kleinere Vögel verſchlingt er ſamt dem Eingeweide, während er letzteres bei größeren verſ<hmäht.

Hierzulande horſtet der Wanderfalke am liebſten in Höhlungen an ſteilen Felswänden, die ſhwer oder niht zu erſteigen ſind, im Notfalle aber auh auf hohen Waldbäumen. Einen eignen Bau errichtet er wohl nur in ſeltenen Fällen, benußt vielmehr andere Raubvogelhorſte, vom Seeadler- bis zum halbverfallenen Milanhorſle herab, ebenſo auch ein verlaſſenes oder gewaltſam in Beſiß genommenes Krähenneſt. Gern bezieht er einen Horſt inmitten einer Reiherſiedelung, auh wohl ſolchen des Reihers ſelbſt; denn die jungen Reiher, die er einſa<h aus dem Neſte nimmt, erleichtern ihm ſeine Fagd und das Auffüttern ſeiner eignen Brut. Drei Horſte der Tundra lieferten uns den Beweis, daß er ſelbſt es für überflüſſig erachtet, Bauſtoffe herbeizutragen. Da ihm hier Fel8wände auf weite Stre>en hin gänzlih fehlen, begnügt er ſih mit hervortretenden Erdmaſſen, die wenigſtens nah einer Seite ſteil abfallen, im Notfalle ſogar mit einem einzigen Steine oder größeren, vom Regen teilweiſe abgewaſchenen Erdklumpen, neben welchem er dann die Eier ohne weiteres auf den Boden legt. Alle drei von uns gefundenen Horſte ſtanden am oberen Rande von Thälern oder Einſattelungen, aber nur ein einziger an einer Stelle, unterhalb welcher das na>te Geſtein zu Tage trat. Es war gerade, als ob er den Schein hätte wahren wollen, indem er