Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

Blindſ\hleiche: Sinnesſchärfe. Zählebigkeit. Fortpflanzung. Fabeleien. 109

Fortpflanzung der Blindſchleihe. Doch ſcheint es, als ob ſie niht vor dem vierten Fahre zur Vermehrung ihres Geſchlechtes heranreift, da Lenz zur Entwi>elung gelangte Eier nur bei erwachſenen oder faſt erwachſenen fand. Die Begattung geſchieht im Mai und zwar, laut Meyer, nah Art ſih paarender Eidechſen. Das Männchen pa>t das Weibchen mit den Zähnen ſo derb am Na>en, daß hierdurch eine Verlezung der Schuppen ſtattfindet, nähert ſih hierauf mit dem Hinterteile dem After des Weibchens und verbleibt, nahdem es ſih geſhle<tli<h vereinigt, mehrere Stunden neben dem Weibchen liegen, ohne ſih mit ihm zu verſchlingen. Die Geburt der Jungen fällt in die zweite Hälfte des Auguſt oder in die erſte Hälfte des September; die Eier werden in Zwiſchenräumen von mehreren Minuten gelegt, und die Jungen winden ſih ſogleich aus der häutigen, dünnen, durGſichtigen Ei: hülle los. Fhre Färbung iſt weißlih, auf Kopf und Bauch ins Bläuliche ſpielend; längs der Rückenmitte verläuft eine bläuliche Linie.

Lenz ſagt, daß er mehr als 100 Junge von ſeinen gefangenen Weibchen bekommen habe, dieſe jedoh in Zeit von 1—6 Wochen ſämtlih verhungert ſeien. Andere Liebhaber, namentli<h Erber, waren glü>licher, denn es gelang ihnen, die kleinen Tierchen aufzuziehen. Doch iſt dies in der That nicht leicht, da die jungen Blindſchleichen nur die aller: zarteſten Kerfe bewältigen können, und man nicht immer im ſtande iſt, dieſe zu beſchaffen. Alt eingefangene gehen gewöhnli<h ohne Widerſtreben ans Futter, laſſen ſih daher bei ge eigneter Behandlung ohne beſondere Schwierigkeit jahrelang erhalten. Fn einem teilweiſe mit Erde ausgefüllten, teilweiſe mit Steinen und Moos verzierten Käfige finden ſie alle Erforderniſſe, die ſie an einen derartigen Raum ſtellen, nehmen ſih hier au<h niedlih aus. Mit Recht kann man ſie jedermann empfehlen. 2

Noch heutigestags gilt die Blindſchleiche in den Augen der großen Menge als eine Schlange und alſo als ein höchſt giſtiges Tier und wird deshalb rü>ſihtslos verfolgt und unbarmherzig totgeſchlagen, wo immer ſie ſih ſehen läßt, während man ſie im Gegenteile ſchonen, insbeſondere in Gärten hegen und pflegen ſollte. Daß ſie niht giftig iſt, wußten ſchon die Alten, und auh Gesner hebt ausdrüdli<h hervor, daß „deß Blindenſchleichers Biß nicht vergiftet noh ſonderlih \{<hädlih ſey“, glaubt aber freilih no< beinahe dasſelbe, was die Ftaliener der Erzſhleihe nachreden. „Wann das Vieh, als Ochſen und dergleichen ſi< in den Weyden ohne gefehr auff ſie niderlegen und ſie mit der Laſt ihres Leibs zum Zorn reizen, ſo beiſſen ſie, daß der Biß zu Zeiten aufflaufft und eytert. Wo ſi< nun dieſer Fall zuträgt, ſo ſol der Biß mit einem Laßeyſen oder einer Alſen geöffnet und gebi>t, darna< Kreiden oder Waſcherden in Eſſig zerrieben darauff gelegt werden.“ Dafür weiß derſelbe Naturbeſchreiber aber auch von einem Nugen der Blindſchleiche zu reden — von dem mwirtlichen, den ſie dur< Auſzehren ſchädlicher Tiere leiſtet, freilih niht, ſondern von dem, den ſie der damaligen Qua>ſalberei leiſtete und unſerer heutigen unzweifelhaſt ebenfalls leiſten würde. „Etliche“, fährt er fort, „haben einen Theriac auß Blinden\<leiheren zubereitet und denſelben zur Zeit der Peſtilenß mit Nuß in Schweiß-Trän>ken gebraucht, zwey oder dreymahl eingeben vnd viel darmit beym Leben erhalten.“ Über dieſe Anſchauung hat ſih die Mehrzahl des Volkes hinweggeſeßt; an der Giftigkeit hält ſie feſt und wird darin leider noh von gar manchem ſogenannten Gebildeten unterſtüßt.

Eine ſchon dem alten Hernandez bekannte Echſe verdient beſonders deshalb Beachtung, weil ihr Zahnbau mit dem der ſogenannten Trugnattern, einer bis zu gewiſſem Grade giftigen Schlangengruppe, Überereinſtimmung zeigt, und die eingewurzelte Anſicht der Eingeborenen, daß beſagte Echſe giftig ſei, beſtätigt. Sie iſt in der That die einzige bis jeßt bekannte Eidechſe, deren Biß gelegentlih tödlihe Folgen für den Menſchen hat.