Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

140 Neueſte Geſchichte. 1. Zeitraum,

in den Wirbel der franzöſiſchen Revolution hineingezogen werden. Ob gleich der Angriff Frankreichs auf dieſelbe ungerecht, und in ſeinen un= mittelbaren Wirkungen unheilbringend geweſen iſt, ſo hat ſie ihn ſich doh durc die Ohnmacht und Zerrüttung ihrer inneren Zuſtände ſelbſt zugezogen. Die Schweiz war, früh zu einem gewiſſen Standpunkt ſtaat= licher Ausbildung gelangt , auf demſelben, ohne fortzuſchreiten , ſtehen geblieben. Selbſt als die Ueberzeugung ſi aufdrängen mußte, daß die unveränderte Fortdauer des Alten mit Gefahren verbunden war, beharrte ſie auf der morſch gewordenen Grundlage ihres Daſeins, und ließ ſi, ſtatt einen inneren Entwielungsproceß freiwillig durhzumahen, denſelben von Außen her aufzwingen.

Die Eidgenoſſenſchaft, urſprünglich aus dem Drange nach Abſchütt= lung der deutſchen Feudalherrſchaft entſtanden, war allmälig dieſem Charakter untreu geworden, und hatte die Ideen der Freiheit in ihrer Mitte zu keiner wahrhaften Entfaltung kommen laſſen. Nachdem die Schwei= zer, dur die Beſiegung Karl's des Kühnen, ſich des letzten Feindes, der ihre Unabhängigkeit bedrohte, entledigt hatten, war von ihnen, mehr aus Kriegs- und Siegesrauſch, als aus einem eigenthümlichen Zuge ihres Weſens, einen Augenbli> lang an Eroberung und Vergrößerung gedacht worden. Ihre Niederlage bei Marignano, und die Erſtarkung der franzöſiz ſchen und öſterreichiſchen Monarchie hatte dieſer Aufwallung der Ehrſucht für immer ein Ende gemacht. Von dieſer Zeit an beſchränkte ſich die Eidgenoſſenſchaft, ohne ſelbſtſtändig in die Verhältniſſe des Auslandes einzugreifen, auf Bewahrung ihrer inneren Zuſtände, in welchen aber niht die urſprünglichen und beſſeren, ſondern die ſpäter hinzugetretenen und geringeren Elemente die Oberhand gewonnen hatten. Die Erbariſtokra= tie, oder eine auf Aemter und Vermögen gegründete Oligarchie war die herrſchende Form des öffentlichen Lebens in ihr geworden. Die ſ{<wei= zeriſchen Verfaſſungen hatten zuleßt alle Kraft der Bewegung verloren. Bevorrechte Stände und Geſchlechter übten, ohne ſchon ſeit langer Zeit Charakter und Talent in hervorragendem Grade dargelegt zu haben, rehtli< oder thatſächlich überall die oberſte Macht und Leitung aus, ſa= hen dieſelbe als einen unverlierbaren Beſiß an, und waren niht geneigt, in dieſen Dingen die geringſte Veränderung vorgehen zu laſſen. Die Selbſtſucht der arkſtokratiſchen Klaſſen, die Verdumpfung des Volksſin-

nes, die Enge und Beſchränktheit des ganzen Lebens hatten die Fremden, ;

welche die Schweiz während des achtzehnten Jahrhunderts kennen zu lernen Gelegenheit hatten, oſt auf die Frage geführt, ob eine ſolche Freiz heit wirkli eine Wohlthat für ein Land ſei, und ob republikaniſche For-