Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

260 Neueſte Geſchichte. 2. Zeitraum.

Die meiſten den deutſchen Bund betreffenden Anordnungen waren mit großer Eile betrieben worden. Man hatte ſi< ſo lange bei den Fragen über Vergrößerung, Entſchädigung , Austauſch aufgehalten, daß die inneren organiſchen Zuſtände nur oberſlählich angedeutet werden fonnten. Die unerwartete Nücfkehr Napoleon's nah Frankreich, der Umſturz des Bourbon’ ſchen Thrones , die Ausſicht auf einen neuen gro= ßen Krieg, die nöthigen Vorbereitungen zu demſelben, nahmen in der lezten Zeit vorzugsweiſe alle Aufmerkſamkeit und Thätigkeit in Anſpruch. Am 8. Juni (1815) ward die deutſche Bundesakte in zwanzig Artikeln, und den Tag darauf die allgemeine Kongreßakte in hunderteinundzwanzig Artikeln unterzeichnet.

Der römiſche Bevollmächtigte am Kongreß, Kardinal Conſalvi, er= ließ im Namen des Pabſtes eine Proteſtation gegen die in Wien gefaßten Beſchlüſſe, weil das deutſche Reich, welches einſt zu der Kirche in einer beſonders nahen Beziehung geſtanden, und die geiſtlihen Fürſten und Stiſter niht wiederhergeſtellt worden. Dieſer Einſpruch ward aber, obglei< allerdings einer höheren Quelle als der der ehemaligen Reich8= unmittelbaren entſprungen , eben ſo wenig berü>ſichtigt. Er war auh nur die Sache einer formellen Konſequenz, und eine Wiederholung des Verhaltens, das die römiſche Kurie einſt gegen die Beſchlüſſe des Kongreſſes in Münſter und Osnabrü> beobachtet hatte, Doch wurde dem Pabſt der Vorrang ſeiner Nuntien und ſeiner ſelten geſehenen Flagge zugeſtanden.

Was die Anordnung der allgemeinen europäiſchen Verhältniſſe betriſt, fo hat der Wiener Kongreß im Ganzen das vamals Mögliche ge= Leiſtet. Daſſelbe kann aber niht von ſeiner Entſcheidung über das Schi>ſal Deutſchlands, das weit mehr in ſeiner Hand lag, behauptet werden. In Bezug auf die territorialen Verhältniſſe war die geographi= ſce Zerriſſenheit Preußens, dem die Eiferſucht und der Neid der übrigen Mächte, Rußland und England ausgenommen, die gebührende Befrie= digung verſagte, ein Hauptfehler, deſſen Folgen einſt ganz Deutſchland empfinden wird. Man fonnte von dem Kongreß allerdings nicht ver= langen, daß er aus Deutſchland etwas ganz Anderes mache, als es bisher geweſen war. Um eine größere politiſche Einheit hervorzubringen, hätte eine thätige Theilnahme der Nation ſelbſt dazu gehört, die nicht vorhanden war. Aber was den damaligen Leitern über Deutſchlands Geſchi> mit Recht vorgeworfen werden kann, iſt die geringe Berückſichtigung der inneren nationalen Intereſſen, und die aus[<ließende Sorge für die Zufxiedenſtellung vynaſtiſher Konvenienzen und Prätentionen. Von der