Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

ihnen war Lavater, ein Zeitgenosse des jüngeren Goethe, und indem sich zum erstenmal ein Menschenkenner bemühte, eine Formel für seine Intuitionen zu finden, wurde er der Stammvater der heutigen Physiognomik. Noch waren seine Fassungen unbeholfen: Beschreibung und Deutung fließen bei ihm ineinander, wie auch schon bei Porta. Mit einer „heiteren Stirn“ wissen wir in der Ausdruckslehre nichts anzufangen. „Heiter“ ist keine Beschreibung in unserem Sinne; sie muß nüchtern sein und wenigstens prinzipiell Messungen in Raum und Zeit gestatten. Nur die Seele ist heiter. Immerhin war Lavater imstande, auch den komplizierteren Ausdruck einer Physiognomie nach einem vorliegenden Porträt in Worte zu fassen und mehr zu erraten als die einfachsten, elementarsten Ausdruckszüge. Weil er aber den Anspruch erhob, nicht nur intuitiv erraten, sondern beschrieben und gleichzeitig auch gültige Beweise geliefert zu haben, verscherzte er sich den Beifall von Geistern, die anfänglich großes Interesse für seine Arbeit und seine Porträtsammlung gezeigt hatten (so Goethes, der an Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ mitgearbeit hatte) und forderte die heftige Kritik anderer heraus, so die Lichtenbergs. Dieser formulierte zum erstenmal scharf den Unterschied zwischen „Physiognomik“, der Lehre von der Körperform, und „Pathognomik“, der Lehre vom Ausdruck, in seiner kleinen Schrift „Über die Physiognomik wider die Physiognomen“ (erschienen in seinen „Vermischten Schriften“, ebenso wie das „Fragment von den Schwänzen“, das die Lavatersche Physiognomik derb verspottet und aus dem wir nebenstehend in Fig. 2 eine satirische Karikatur mit dem begleitenden Text wiedergeben). Das griechische Wort „Pathos“ heiftt Leiden, und so versteht Lichtenberg den Ausdruck als die Körperform im Zustand des Erleidens; er ist nichts willkürlich Hervorzurufendes, sondern

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