Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten
Zuſtände hatten ſi< derart geſtaltet, daß die Liquidation der orientaliſchen Frage niht mehr verhindert werden konnte, die gegenſeitigen Beziehungen und die Sonderintereſſen der europäiſchen Mächte, insbeſondere der nächſtbetheiligten Grenzſtaaten Oeſterreih-Ungarn und Rußland, waren aber derart, daß dieſe Liquidation niht beſchleunigt werden durfte, Und ſo blieb in dieſem fatalen Entweder-Oder nichts übrig, als zu Beſänftigungsmitteln zu greifen, welhe den höchſt ungemüthlichen Zuſtand zwiſchen Nichtlebenkönnen und Nichtſterbenſollen forterhielten und die gemeingefährlihen Zu>ungen des Patienten durch ſtets bereit gehaltene Douchen zu dämpfen hatten.
Es war alſo die nächſte Forderung, welche Europa, wenn mögli<h mit, ſonſt aber au<h ohne Mitwirkung der Pforte auf der Balkan-Halbinſel zu erfüllen hatte, der Fortbeſtand der äußeren Ruhe und des Status quo; es mußte deshalb vor Allem die Ordnung in Podgoriza und auf dem montenegriniſhen Gebiete wieder hergeſtellt werden, wenn ſie überhaupt in einer ſo ſ{hweren Weiſe, wie die Meldungen lauteten, geſtört worden war. Das Bedürfniß na<h Blutrache, das in den Schwarzen Bergen ein ſehr lebhaftes geweſen, fonnte niht maßgebend ſein für das Verhalten der europäiſchen Mächte ; es ſtand ja Höheres auf dem Spiele als das meuchleriſ< vergoſſene Blut einiger Chriſten, und darum konnten es zunächſt die drei Mächte, deren Kaiſer gerade die orientaliſhe Frage zum Gegenſtande ihrer Beſprehungenu in Wien, Berlin und Petersburg gemacht hatten, um keinen Preis zugeben, daß dieſe blutige Angelegenheit dem Bereiche - einer ſtrengen gerichtlihen Ahndung entrü>t und möglicherweiſe zu einem Kriegsfalle zwiſhen der Pforte und Montenegro gema<t werde. Nachdem ſeit dem leßten Kriege von 1862, der den Kindern der Schwarzen Berge ſo übel bekam, die Waffen geruht hatten, wäre es ein Frevel geweſen, ſie jebt wieder zu ſ{hwingen, zumal da die Mächte mehr als je in der Lage waren, erfolgreih Halt zu gebieten. Dieſelben hatten — wie ein geiſtvoller Politiker damals meinte — ni<hts Beſſeres zu thun, als ihre Diplomaten in eine FeuerwehrMannſhaft zu verwandeln, und vor Allem war Oeſterrei<h-Ungarn dazu berufen, mit dem Schlauch in der Hand ftets auf dem Dache zu ſtehen und das feuergefährliche Nachbarhaus zu überwachen,
Der blutige Zuſammenſtoß zwiſhen Türken und Montenegrinern in Podgoriza an der türkiſch - montenegriniſhen Grenze wiederholte ſi inzwiſchen. Die Türken tödteten aht Montenegriner und einige Serben, die montenegriniſ<he Müßen trugen, und zündeten au< das montenegriniſche Dorf Kulince an, worauf die Chriſten in die Berge flohen. Alle dieſe Nachrichten waren aber mit Vorſicht aufzunehmen, denn von beivèn Seiten hatte man ein Jutereſſe, die Wahrheit zu ent-
ſtellen ‘und die Schuld von ſi<h abzuwälzen. Daß die officiellen türkiſhen Berichte ſtets die Montenegriner für jene Blutthaten verantwortli<h machten, iſt begreifli<h ; iſt es doch eine alte Geſchichte, daß die Söhne der Schwarzen Berge ſi<h niht lange beſinnen, wenn ſie Luſt haben, einem Muſelmann den Hals abzuſchneiden ; es hat leider das Chriſtenthum in jener romantiſhen Gegend die uralte Barbarei noh nicht auszurotten vermocht und jedenfalls fann man niht behaupten, daß in dem Kampfe der Chriſten gegen Mohammedaner die Civiliſation gegen die Uncultux ſtreite. Es ſind zwar die Türken auch nicht ſehr culturfähig, aber die <riſtlihen Feinde derſelben haben bisher nur ihre Säbel und Flinten als Werkzeuge höherer Bildung benügt.
Um ſ<hließli< die allgemeine Aufregung etwas zu beſchwichtigen, wurde von der Pforte eine U nterſuhungs-Commiſſion eingeſeßt und Montenegro aufgefordert, ſich in derſelben vertreten zu laſſen. Fürſt Nikolaus fordexte, daß auh die Conſuln der aus8wärtigen Mächte zu der Enquête über die Mordthaten von Podgoriza beigezogen würden; die Türkei jedo<h fand es nicht für angemeſſen, dieſem Wunſche Montenegros Rechnung zu tragen.
Jndeſſen ſchien es doh, als habe man die Wichtigkeit der Affaire anfänglih zu unverdienter Bedeutung emporgeſchraubt, denn eine von inſpirirter Seite kommende Mittheilung ſagte über die Vorgänge in der Czernagora in ziemli<h unumwundener Weiſe :
„Die Affaire von Podgoriza ſtellt ſi< immer deutlicher als einer jener blutigen Raufhändel heraus, wie ſie in der Umgegend der Schwarzen Berge nicht zu den Seltenheiten gehören. Gerade diesmal hat man jedo< Gelegenheit zu beſtätigen, daß ſi<h von beiden Seiten, der türkiſchen ſowohl als der montenegriniſ<hen, das Beſtreben fundgiebt, den Zwiſchenfall als das zu behandeln, was er iſt, nämli<h ein Exceß, mit dem wohl die Polizei, aber niht die Politik etwas zu ſchaffen hat. Fürſt Nikolaus ſowohl als der Vali (Statthalter) von Skutari haben raſch die erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um jede weitere Ausſhreitung hintanzuhalten, zu welher die landesüblihe Gepflogenheit der Selbſthilfe die erbitterten Gemüther hinreißen könnte. Was in den Affffairen von Veli- und Mali-Brdo, Piperi u. \. 1. todt\hlägeriſhen Angedenkens, erſt na<h langem Unterhandeln und Fnterveniren gelang, die Einberufung einer gemiſchten Unterſu<hungs-Commiſſion, iſ in dieſem Falle ſhon am vierten Tage na<h dem Vorfalle ungezwungen geſchehen, und nichts berechtigt zu der Annahme, daß dieſe Epiſode von nachhaltigeren politiſchen Folgen begleitet ſein werde.
Die Frage trat auh für einige Zeit wieder in den Hintergrund, um einer weit wichtigeren Plaß zu machen.