In jedes Menschen Gesichte steht seine Geschichte : Lehrbuch der Physiognomie : mit 140 Abbildungen

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Hier müfjen mir fejtitellen ob er ruhig oder bewegt, fejt- oder offenjtehend ift. Auch) dem Ohr und Kinn muß Aufmerfjamteit gejchenft werden. Gin ftarfes oder jhmwacjes, breites oder jpihes, berpor- oder zurüdtretendes Kinn wird gleichfalls verfjchieden zu beurteilen fein.

Sit das alles fejtgeitellt, dann folgt die genaue Beftimmung in weldem Verhältnis die einzelnen Teile zu einander jtehen, wie es oben jchon bemerkt wurde. Sind die Verjtandeskräfte gut ausgebildet bei einer nad) innen gebogenen Staje, bei Ihmärmerifjdem Blid und fügen Mundzug, dann haben mir den vielleicht geijtvollen Schwärmer, der den Mädchen gut ge= fallen, mit Vollendung Süßholz rafjpeln wird, der aber troß feiner Fähigkeiten für einen PBojten, der Tatfraft und Snitiative erfordert, ganz ungeeignet ilt. Weit der Kopfbau nur mäßige Entwidelung auf, bei qutentwidelter Naje, energiihem Kinn, fejten lebhaften Blid, jenfrechten Stirnfalten (nicht Zornesfalten), dann haben mir einen zielbewußten Menjchen vor uns, der genau weiß was er will, unbeirrt feinen Weg gehen und jeine Pläne auch erreichen wird.

Wenn alle Merfmale aud) daraufhin unterjucht jind, wie jedes einzelne entwidelt ijt, ob jtarf oder jchwad) oder nur leije angedeutet, ob es in den Mienen häufig wiederfehrt, gleichmäßig oder in verjchiedenen Stärfegraden auftritt, erit dann beginnen wir mit der vorjihtigen Zufammenfajjung aller Einzelheiten. Dann erjt beginnt das vorjihtige Abmwägen, das jorgfältige Ubmejjen, das jich vertiefen, ji) hineindenfen, ji) Hineinfühlen in die fremde ndividualität, um jie nahzufchaffen, ihre inneren Widerfprüche gleich einem Kriftallifationsprozeß rejtlos zu löjen. Und das ift jehr jehwer. Der Anfänger glaubt alle Hindernijje überwunden zu haben, wenn er verjdhiedene Merkmale erkannt und fie mit Erklärungen verjehen hat. Uber die einzelnen Züge erfennen bedeutet noch nicht das Können. Sie jtellen blos das Alphabet dar, das in unzähligen Variationen uns entgegenttritt. Sie troß aller Widerfprüche richtig zu erfafjen ijt die Kunft die nicht gelehrt und gelernt werden fann. Von den einzelnen Zeichen gilt das, was Goethe von der Phrenologie jagte: „Das Budhjjtabieren und Syllabieren ift nod nicht daS Xejen, nod) weniger Genuß und Anwendung des Gelefenen, es führt aber dazu”.