Orpheus : altgriechische Mysteriengesänge

natürlich die religiöse Vorstellung von der primitiven Dämonenabwehr immer mehr zur reinen Idee der Abkehr vom Irdischen, zur Askese in höherem Sinne — etwa wie in den klassischen Zeiten unseresMittelalters einprimitiver Teufelsglaube in der vergeistigten Mystik sich auflöste.

Eine ähnliche Entwicklung zeigen die Göttervorstellungen in den Hymnen selbst. Von der plastischen Menschlichkeit der homerischen Götter ist wenig mehr übrig; die persönlichen Götter sind zum großen Teile in Begriffe aufgelöst, in Allegorien mit spekulativer oder ethischer Tendenz. Im ganzen können wir ungefähr drei Typen unterscheiden. Der erste ist mit dem primitiven Zauberspruch verwandt; er will durch dringende Anrufung und Nennung möglichst vieler kultisch wirksamer Namen die Gottheit in den eigenen Bann und Dienst zwingen. Unter der späteren Redaktion schimmert dies allerdings nur noch durch. Dann begegnet uns der eigentliche feierlicheHymnos,derdurchdasPathosseinerDiktionindemHörer die Vorstellung des Erhabenen und des Weihevollen weckt. Endlich zeigtsichbeimanchen,wohldenpoetischwertvollsten, ein rhapsodischer Charakter, ein Vorwalten der ursprünglich rein poetischen Naturanschauung, dem die sakrale Tendenz nur oberflächlich angeheftet ist. Unter all diesen läßt sich eine scharfe Grenze nicht ziehen; den breitesten Raum nehmen dabei natürlich die dem eigentlichen Kultusmittelpunkte, Dionysos-Bakchos, gewidmeten Lieder ein.

Die Frage der Entstehung der uns heute vorliegenden Gestalt ist nicht restlos geklärt. Nachdem man lange an eine unmittelbare Herkunft aus der klassischen Zeit gedacht hatte, wies Hermann in seiner 1805 erschienenen Ausgabe der Orphica nach, daß auf Grund metrischer Eigentümlichkeiten die uns erhalteneFassungnurausspäten, nachchristlichenJahrhunderten stammen kann. Damit ist allerdings über das Alter der Lieder nichts gesagt; diese dürften wohl, aus verschiedenen Zeiten

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