Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen : Voyslav M. Yovanovitch, 'La Guzla' de Prosper Mérimée, Étude d'histoire romantique.
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Beurteilungen und kurze Anzeigen
in seinem Material lebend, aus später in extenso angeführten Belegen z. B. dem Brief, den Lingay an den Verleger Levrault schreibt, einzelne Stellen als Zitate herausgreift (vgl. S. 397 f.), über die man sich fast ärgert, weil man das beschämende Gefühl hat, sie nicht unterbringen zu können, bis sie viel später als ein interessantes ineditum verständlich werden und beruhigen. So könnte manche Kürzung nicht zum Schaden des Werkes vorgenommen werden, z. B. in dem Artikel des Moniteur und in den übrigen Anzeigen (S. 401—19), da sich als hauptsächliches Ergebnis daraus doch nur entnehmen läfst, dafs die Legende, der Verfasser der Ouxla sei selbst für den Verleger bis zur zweiten Ausgabe 1842 unbekannt geblieben, nicht den Tatsachen entspricht. Wenn nun auch Yovanovitch zahlreiche und tiefgründige Vorarbeiten benutzen konnte, so hat er doch mit scharfer und überzeugender Kritik und sorgfältiger Belesenheit alles zusammengestellt, was sich irgendwie auf seinen Stoff bezieht. Für die Entstehungsgeschichte der Ouxla erfahren wir aus dem bisher unbekannt gebliebenen, bereits obenerwähnten Brief an den Verleger zu der schon bekannten Tatsache, dafs das Buch selbst eine Mystifikation ist und der Schelm Mérimée auch später in der Vorrede zur zweiten Ausgabe und in seiner Korrespondenz trotz der biedersten Miene und dem aufrichtigsten Tone seine Karten verdeckt zu halten verstand, noch den nicht minder interessanten Umstand, dafs auch seine Angabe, er hätte mit dem Erlös der Ouxla die geplante Heise zur Nachprüfung des Phantasieprodukts machen wollen, blague ist, denn dem Verleger war das Bändchen zur Veröffentlichung überlassen worden sans rien recevoir, ni sunt payer. Unterhaltsamer weifs natürlich Mérimée die Geburt seines Musen kindes in dem Brief an Puschkins Freund Sobolevsky zu schildern (S. 507 ff.). Danach hätte er während eines Landaufenthalts nach dem Genufs von ein oder zwei Zigarren die Zeit bis zum déjeuner, die die Damen für ihre Toilette brauchten, mit der Niederschrift einer Ballade ausgefüllt. Statt der vierzehn Tage, die Mérimée darauf im Jahre 1827 verwendet haben will, rechnet ihm der unerbittliche, wahrheitsbeflissene und verstandeskühle Literarhistoriker nach, dafs die Ouxla nur die Hälfte der Zahl, aber an Jahren, zu ihrer Reife gebraucht habe. Jean Sbogar von Nodier (1818) hat seiner Phantasie wohl den ersten Anstofs, Smarra (1821) und dann namentlich die Chants populaires de la Orèce von Fauriel (1824) haben ihr weitere Anregung gegeben. Danach hatte Mérimée mit Ampère eine genaue Übersetzung des Ossian geplant und wollte sich auch an einer Reise nach Illyrien beteiligen. In dieser ganzen Zeit ist wohl die Ouxla langsam gereift und im Kopfe gestaltet worden, bevor sie endlich 1825 oder 1826 niedergeschrieben wurde (S. 217 bis 223). Hübsch ist auch der Nachweis, wie eich der Kommentar Mérimées zum Teil mit ganz ähnlichen Wendungen den Fauriels zu seinen griechischen Volksliedern zum Vorbild genommen hat. Für den Teil, der über die Quellen der Ouxla handelt, ist zwar auch schon die Hauptarbeit von Vorgängern geleistet, aber Yovanovitch macht es uns bequem, durch vollständige, fast zu reichliche Inhaltsangaben, Auszüge und Gegenüberstellungen nachzuprüfen und uns ein eigenes Urteil zu bilden. So gehen wir mit Vergnügen der Arbeitsweise Mérimées nach, sehen, was für Schulden er aufgenommen, wie getreulich er manchmal seiner Quelle folgt, so getreulich, dafs er sogar auf Unkenntnis der Originalsprache beruhende Druckfehler übernimmt, aber wir werden uns anderseits auch bewulst, was der Künstler aus dem Stoffe zu machen verstanden, was er an Eigenarbeit hinzugetan hat. So hat Du Halde seiner Description de la Chine (1735) ein chinesisches Drama eingeflochten: Le petit Orphelin de la maison de Tchao, das auch die Hauptquelle für L’Orphelin de la Chine von Voltaire ist. Mérimée