Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 4.
102 Der Talisman des Weibes.
„Vorſicht!“ ſagte Tante Käthe noch einmal, als Beide vor der Schlaf ſtubenthüre Jrmengard's ſtanden und ſie den Juſtizrath nicht ſo ruhig fand, wie ſie es wünſchte.
Suſanne öffnete auf ſein Klopfen die Thüre. Das
Mädchen ſah verhärmt und traurig aus. I „Wie geht es heute?“ fragte Dreyſing leiſe, während Tante Käthe das dumpfe, heiße Gemach mit ihren Blicken dur<flog.
„Schlecht, ſie hat wieder Selbſtmordgedanken, “ flüſterte Suſanne, neugierig die hohe, imponirende Erſcheinung der Fremden muſternd.
Dex Juſtizrath ging auf einen niedrigen Divan zu, wel<her hinter einem Wandſchirm ſtand. Lante Käthe folgte.
Eine weiße Geſtalt mit gelöstem blondem Haar, das Antliß in den Kiſſen vergraben, lag auf dem Ruhebelt und regte ſich niht bei ſeiner Anrede.
Dreyſing beugte ſi< zärtlich nieder und legte ſeine Hand bittend auf ihre Schulter. „J<h bin es, Jrmenz gard. Wollen Sie mix nicht guten Tag ſagen ?“
Sie ſeufzte tief auf, ohne der Aufforderung Folge zu leiſten.
„Jrmengard, “ fuhr ex tröſtend fort, als ſpräche er zu einem Kinde, „i< bringe Ihnen heute eine freudige Nach= richt. Sie wollten ſo ungern in eine Penſion unter fremde Menſchen gehen; hier iſ meine Schwägerin, die Sie gern aufnehmen will und pflegen, bis Sie Jhrx Augenlicht wie= der erlangt haben.“
Die junge Frau erhob langſam das lotige Haupt.