Bitef

Quellen von Unglück. Und sucht nach den (falschen) Bildern, die wir uns selbst von uns entwerfen und anderen Vorspielen. Durchaus texttreu reflektiert Ostermeier die Haltung des Autors, die Alfred Kerr beschrieb als die eines genauen Betrachters: Ibsen lache nicht, er weine nicht, "ersieht". Ostermeier sieht hin. So spannend war die "Nora" noch nie. Selten ist Theater so an und in der Zeit wie an diesem Abend. Dabei fing der nur zwei Stunden kurze, resante Abend eher beängstigend betulich an. In

den ersten Minuten schien es so, als wollte Ostermeier "Nora" zur TV-Soap Verkleinern. Auf die Bühne hat Jan Pappelbaum eine schiebe Penthouse-Wohnung gebaut. Im Souterrain der Eingang und die Garderobe. Wenige Stufen führen in den Salon und zur Bar; eine Treppe zu den Schlaf- und Kinderzimmern und zu Helmers Büro. Die Möbel demonstrieren Geschmack: Mies van der RoheLiege und -Sessel. Nur ein übergroßes Aquarium, in dem fette Goldfische mümmeln, verweist darauf, dass Helmer, der zum Bankdirektor aufgestiegen ist, sich auch als nouveau riche nicht ganz von seinen Spießerträumen hat lösen können. Jörg Hartmann kommt herein - Helmer: ein gepflegter Business-Class-Flieger mit Laptop, Handy und Headset. Nora ist noch nicht zurück, also beschäftigt sich der Vater mit ihnen, er fotografiert sie - das heißt: Sie müssen für ihn spielen. Kurz danach erscheint sie: Nora - Anne Tismer. Schluss mit Soap. Schick ist sie und schön. Sie wirft mit einstudierter Allüre den weißen Pelz ab, steht da in einner engen weißen Bluse, einem weißen Rock und dunkelbraunen Stiefeln, Rasch kramt sie aus der BurberryHandtasche ein Tütchen, nascht von den Makronen, die der Mann ihr zu essen verboten hatte, und

zeigt die Weihnachtsgeschenke, die sie erstanden hat: Puppenset und Spielzeuggewehre. Anne Tismer tiriliert wie ein Vögelchen, schnattert wie ein Gänschen. Jeder Gang, jedes Lachen, jede Geste ist vergrößerte, verlängerte Pose. Sie will sein, was sie Helmer sein muss. "Lerche", nennt er sie, sein "Eichhörnchen", sein "Häschen", seine "Schnecke". Sie ist springlebendig - und doch im Innern tot. Ein bis zum Anschlag aufgedrehter Automat, Eine Offenbachsche Olympia und eine Barbiepuppe der Extraklasse, Mach' mir das Superweib! Nie nimmt sich diese Nora Zeit zu denken, zu handeln, zu sprechen. Sie funktioniert - und sie explodiert, weil sie als Raketen weib programmiert wurde. Sie Fällt einmal nur aus der Superrolle. Wenn sie schwärmt, dass sie bald "richtig viel Geld" haben würden, kotzt sie eklig und lüstern zugleich die Vision vom Reichtum. Das ist Noras erster Ausrutscher. Es folgen derer viele - je mehr sie die Furcht vor der Aufdeckung ihres

Verbrechens peinigt, das sie begangen hat, um ihrem kranken Mann durch einen Kredit eine Kur in Italien zu finanzieren. Als sie, um Torvald vom Briefkasten wegzulocken, zu tanzen beginnt, wird sie zur Furie. Wie Lara Croft rast und tanzt sie, stürzt ins Aquarium, schlägt sich die Stirn blutig, fuchtelt mit einem Yeti-Säbel herum. Aggressiv. Todeswütig. Sie tanzt um ihr Leben - und begehrt doch das Ende. Die Bühne bewegt sich, erst nur um Jeweils neunzig Grad; später

dreht sie sich wild, gleich mehrfach hintereinander. Ein hitziger Taumel ergreift alle. Sie verlieren Gleichgewicht, Maß, Konvention und Masken. Was sie ein Leben lang quälte, wird Laut. Doktor Rank, ein schnieker Beau, der Männer und Frauen verführte und an den Folgen von Aids sterben wird, fällt über Nora her - und als er stürzt, brüllt Lars Eidinger; "Scheiße!" Kay Bartholomäus-Schulze, der Krogstad, will aus der Flaut fahren. Nichts kann diesen Paria in seinem Kummer, womöglich Job und gesellschaftliche Achtung zu verlieren, zurückhalten. Die Augen gehen ihm über, die Zunge schießt aus seinem Maul, die Stimme überschlägt sich. Allein Jenny Schily bleibt ruhig. Frau Linde hat so viele Stürme schon erlebt. Sie, die Schiffbrüchige, bringt Ruhe ins Chaos; sie sehnt sich nach einem nur: Sie will mit Krogstad, den sie eines reicheren Mannes wagen verlassen hatte, ein neues Leben beginen. Dieses Paar wird zum Symbol für die Hoffnung, die am Ende der Aufführung bleibt. Zwei, die die Wahrheit übereinander kennen. Und gesehen haben, dass der Tausch-Handel Sex für Geld, so wie ihn Torvald und Nora lebten, scheitern muss. Dass Anpassung Unterdrückung zeitigt. Denn dies ofrenbart Anne Tismer zudem: Nora hat allein dann Erfolg, wenn sie dem Bild entspricht, das sich Helmer von ihr macht: Sie gibt die Hand Helmers auf ihre Brüste legen muss, um zu bekommen, was sie will. Thomas Ostermeier erzählt auf zwei Ebenen. Zum einen psychologisch-realistisch, zum anderen - und das macht die Inszenierung zu einem Ereignis - treibt er

diesen Realismus in den Alptraum und in die Groteske. Einmal legt Nora die Pistole an ihre Schläfe, dann zielt sie auf den Mann, der ihr den Rücken zukehrt. Schließlich legt sie die Waffe weg. Es folgt ihr erstes ernsthaftes Gespräch, die Abrechnung: Es war keine Liebe. Es war Dressur. Es war Markt. Die Frau weiß, dass es keinen Ausweg gibt - dies ist Ostermeiers kluge Zuspitzung und der einzige Eingriff in das Stück. Die Mechanik ist kaputt. Nora will das Ende. Und schießt. Torvald taumelt, stürzt, stirbt. Vor dem Haus sinkt Nora zusammen: Vonnun an wird sie verstummen. Niemandem wird sie eine Antwort geben, warum sie est tat: "Don't ask me why!" Bernd Sucher „Süddeutsche Zeitung" 28. November 2002