Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

98 Erſte Drdnung: Baumvögel.

Jede Begabung wird erprobt, jede Befähigung geübt. Nur ſolange ſie ſ<hlafen, ſind ſie thatſächlih unthätig; wachend beſchäftigen ſie ſih gewiß in irgend einer Weiſe, und wäre es auh nur, daß ſie ſich das Gefieder pußen. Ein großer Teil des Tages wird der Ernährung, ein kaum geringerer der uns am meiſten anmutenden Beſchäftigung, dem Singen, gewidmet. Weitaus die große Mehrzahl beſizt in hohem Grade die Fähigkeit zu ſingen. Hinſichtlich einzelner Papageien läßt uns beſonderes Wohlwollen wohl au< von Geſang reden, während es ſi, ſtreng genommen, nur um lieben8würdige Stümperei handelt; die SperlingSvögel dagegen vereinigen in ihrer Sippſchaft alle wirklihen Sänger, die wahren Meiſter der edlen Kunſt, und wiſſen Kenner ihres Geſanges ebenſogut zu begeiſtern wie geſchulte Menſchenſänger ihre Zuhörer. Alle, welche wirklich ſingen, thun dies mit Begeiſterung und Ausdauer, und alle ſingen niht bloß ihrem Weibchen oder, wenn ſie gefangen ſind, ihren Pflegern, ſondern auch ſi ſelbſt zur Freude, wie ſie anderſeits ihr Lied zur Waffe ſtählen, mit ihm kämpfen, durch dasſelbe ſiegen oder unterliegen. Wer eine Nachtigall, eine Droſſel ſingen gehört und ſie verſtanden hat, begreift, daß ſol< ein Vogel Lebensſreudigkeit, leichte Erregbarkeit des Geiſtes beſißen, daß er leidenſchaftlich ſein muß, um ſo Vollendetes ſchaffen zu können. Man hat den Singvogel oft mit dem Dichter verglichen, und der Vergleich, mag er auh hinken wie jeder andere, und mag man über ihn ſpötteln, darf gelten: denn was der Dichter unter den Menſchen, iſt der Sänger in gewiſſem Sinne wenigſtens unter den Vögeln.

So vielſeitiger Begabung, wie ſie dem Sperlingsvogel geworden iſt, entſprehen Lebensweiſe, Betragen, Ernährung, Fortpflanzung und andere Thätigkeiten und Handlungen. Im allgemeinen läßt ſih hierüber wenig ſagen; denn eigentlih ſcheint unter Sperlingsvögeln alles möglih zu ſein. Fhre Lebensweiſe iſt ebenſo verſchieden wie ihre Geſtalt, Begabung und ihr Aufenthalt, ihr Betragen ſo mannigfaltig wie ſie ſelbſt. Die meiſten von ihnen ſind in hohem Grade geſellige Tiere. Einzelnen begegnet man nur zufällig, Paaren bloß in der Brutzeit; während der übrigen Monate des Jahres ſammeln ſi die Paare und Familien zu Trupps, die Trupps zu Scharen, die Scharen oft zu förmlichen Heeren. Und nicht bloß die Mitglieder einer Art verſammeln ſich, ſondern au<h Gattungsverwandte, welche unter Umſtänden monatelang zuſammenbleiben, in einen Verband treten und gemeinſchaftlih handeln. Solche Verſammlungen ſind es, welche wir im Spätherbſte, nach vollendeter Brut und Mauſer, in unſeren Wohnorten, auf unſeren Fluren ſehen können; ſole Genoſſenſchaften ſtellen ſi< während des Winters in Bauerngehöften oder in den Straßen der Städte als Bettler ein; ſol<he Verbindungen bleiben auch in der Fremde beſtehen. Der Klügere pflegt für das Wohl der Gefamtheit Sorge zu tragen, und ſeinen Anordnungen wird bei den übrigen Gehorſam oder ſeinem Vorgehen Nachahmung. Bei anderen Sperlingsvögeln, welche ebenfalls in Geſellſchaft leben, walten abweichende Verhältniſſe ob. Kein Mitglied des von ihnen gebildeten Verbandes opfert dieſem ſeine Selbſtändigkeit; einer ſteht zwar dem anderen in Gefahr und Not treulih bei, die Gatten eines Paares hängen mit inniger Zärtlichkeit aneinander, und die Eltern lieben ihre Jungen in ſo hohem Grade wie irgend ein anderer Vogel die ſeinigen: im übrigen aber handelt jeder einzelne zu ſeinem Nußen. Fhre geſelligen Vereinigungen ſind, wie es ſcheint, Folgen der Erkenntnis aller Vorteile, welche ein Verband gleichbefähigter dem einzelnen gewährt, Verbindungen zu Schuß und Trutz, zur Ermöglichung geſelliger Freuden, zur Unterhaltung des ewig nah Beſchäftigung ſtrebenden Geiſtes. Einzelne Arten halten ſogar Zuſammenkünfte an gewiſſen Orten und zu gewiſſen Stunden ab, ſcheinbar zu dem Zwe>e, gegenſeitig Erlebniſſe des Tages auszutauſchen. Andere Sperlingsvögel wiederum ſind Einſiedler, wie ſolche unter Vögeln nur gedacht werden können, grenzen eiferſüchtig ein beſtimmtes Gebiet ab, dulden darin kein zweites Paar, vertreiben aus ihm ſogar die eignen Jungen.